Der eigene Rhythmus der Introvertierten
Wenn du introvertiert bist (vielleicht auch nur ein bißchen), kennst du diese Situationen bestimmt: In einem Gespräch, einer Diskussion oder einem Streit fehlen dir die treffenden Bemerkungen und Argumente. Während du noch darüber nachdenkst und innerlich interpretierst, was dein Gesprächspartner gerade gesagt hat, schleudert dieser schon die nächsten Worte in den Raum.
Irgendwie hast du das Gefühl, dem Gespräch hinterherzuhinken. Du bist einfach nicht schlagfertig genug. Du brauchst länger, um eine Aussage im Kopf zu verarbeiten, aber nicht, weil du ein langsamer Denker bist, sondern weil du ein gründlicher, tiefgründiger Denker bist.
Nach dem Gespräch (der Diskussion, dem Streit) spürst du die Situation noch lange nach. Wenn du alleine bist, grübelst du stundenlang über jede Einzelheit der Begegnung. Was hat er mit diesem oder jenem Satz gemeint? Warum hat er sich so oft am Kopf gekratzt? Hat er wirklich verstanden, was ich sagen wollte? Ach, ich hätte noch dies oder das sagen sollen, warum ist mir das nicht gleich eingefallen?
Bei der Arbeit, z. B. in Besprechungen und Meetings, läuft es ähnlich. Du hast dich gut auf das Besprechungsthema vorbereitet, hast auch die ein oder andere Idee für ein Problem oder Argumente für eine Entscheidung gefunden. Aber wenn die Diskussion im vollen Gange ist (besonders, wenn es eine große Runde mit viele Extros ist), konzentrierst du dich auf die Aussagen der anderen, kommst kaum zu Wort oder reflektierst ihre Argumente, ob sie vielleicht besser sind als deine. Und ehe du dich versiehst, wird das Thema gewechselt oder die Besprechung wird beendet, ohne dass du dich so ausführlich einbringen konntest, wie du es dir vorher überlegt hattest.
Spontanität ist auch nicht so deine Welt. Wenn es plötzlich heißt: „Wir grillen heute Abend!“, fängst du sofort an, deine Grillen-Checkliste im Kopf durchzugehen: Haben wir alles? Muss ich noch einkaufen fahren? Hat der Schlachter überhaupt noch auf? Ist der Grill sauber? Welche Salate soll es geben? Was sagt eigentlich der Wetterbericht? Und so weiter.
Eine spontane Idee führt bei dir dazu, wie im berühmten Schneeballsystem, dass viele neue Aspekte durchdacht werden wollen, die dann ihrerseits neue Fragen in deinem Kopf aufwerfen. Das erhöht dein Stresslevel, holt dich aus deiner ruhigen Komfortzone und kostet Energie.
Diese ausführliche Innenschau von Introvertierten kann manchmal ganz schön anstrengend sein. In vielen Situationen, vor allem wenn dir ausreichend Zeit zur Verfügung steht, ist dein tiefgründiges Denken sehr hilfreich, und es ist definitiv eine Stärke von Introvertierten. Schließlich unterstützt es deine Kreativität, deine Ideenentwicklung und Flexibilität für neue Gedanken.
Aber es führt auch zu zeitverzögerten Reaktionen. Oft ist der Moment längst vorbei, um die Ergebnisse deiner Gedankengänge mitzuteilen. Nur selten erhältst du die Gelegenheit, deine Meinung, Ideen oder Argumente nachzuliefern. Sie haben dann einfach nicht mehr die gleiche Kraft.
Vorbereitung gibt Sicherheit
Es kann sehr hilfreich sein, sich auf ein Gespräch, eine Besprechung und ähnliche Situationen vorzubereiten, wenn dies möglich ist. Im Vorfeld hast du ausreichend Zeit, deine Meinung zu einem Thema auszuformulieren, Argumente zu sammeln und deine Reaktion auf mögliche Gegenargumente zu planen.
Als Intro spielst du Situationen, die auf dich zukommen werden, gerne vorab gedanklich durch. Du probst ein Gespräch innerlich. Das gibt dir Sicherheit. Dann hast du deine Gedanken bereits sortiert und dich für die besten entschieden, wenn es soweit ist.
Wenn die Situation sich jedoch spontan verändert, kann dich das schnell aus der Bahn werfen, denn du fängst gedanklich wieder von vorne an und musst zusätzlich noch deine „vorbereiteten“ Gedanken neu sortieren. Welche kannst du auch in der neuen Situation gebrauchen und welche musst du jetzt verwerfen? Dass dies nochmal extra Energie kostet, brauche ich dir nicht zu sagen.
Mit dem schnellen Extro-Rhythmus unserer Welt können wir Intros manchmal nicht mithalten. Schade, denn dadurch geht der Welt vieles verloren von dem, was Introvertierte ihr geben könnten.
Die Spannung zwischen zwei Polen
Als introvertierter Mensch durchlebst du häufig einen inneren Konflikt: Auf der einen Seite hast du vielfältige Interessen (manchmal scheint es dir, dass du mehrere Leben bräuchtest, um all deinen vielen Interessen nachgehen zu können), möchtest dich mit guten Freunden treffen, etwas mit ihnen unternehmen. Du hast Lust, aktiv zu sein.
Auf der anderen Seite steht dein enormes Bedürfnis nach Rückzug und Ruhe. Es ist gar nicht so leicht, Tag für Tag zu entscheiden, welchem der beiden inneren Bedürfnisse du jeweils mehr Aufmerksamkeit schenken sollst, welchem du heute nachgeben sollst.
Egal wie du dich entscheidest, es hat auch immer einen Nachteil für dich. Entscheidest du dich für eine Aktivität, und sei es nur ein Treffen mit einer guten Freundin im Café, riskierst du Überstimulation, was dich sehr kraftlos macht, und weitere Alltagsanforderungen, wie Familie, Job, Telefonate usw., sind dann mühsamer zu bewältigen. Wenn du dich für Rückzug entscheidest, hast du aber das Gefühl, das Leben zu verpassen.
Kennst du dieses Dilemma? Allein diese tägliche Abwägung und Entscheidung braucht deine Energie. Oft möchte man einem Impuls, einer Lust auf Aktivität gerne nachgeben, aber der Körper sendet ein Stoppsignal, weil er eigentlich Ruhe braucht.
Den eigenen Rhythmus finden
Es braucht tägliche Selbstbeobachtung, um einen Weg zu finden, diese innere Spannung abzubauen und einen persönlichen Wohlfühlrhythmus zu entwickeln. Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Bedürfnis nach Gesellschaft, Unternehmungen, Interessen, Beziehungen, und dem Bedürfnis nach Ruhe, Reflektion, Alleinzeit.
Beobachte dich selbst: Was ist der Auslöser dafür, wenn du ein innerliches Stopp spürst?
- Ist es dein Körper, der erschöpft von einer Anstrengung ist?
- Oder ist es eine Überstimulation durch eine anregende Gesellschaft, vielleicht sogar die „falschen“ Leute, die dir durch ihre Art viel Energie rauben?
- Hast du gerade viele Sinneseindrücke zu verarbeiten?
- Läufst du schon wieder zu lange im Alltags-Hamsterrad?
- Oder verspürst du einfach das Bedürfnis, etwas ganz Bestimmtes allein für dich zu tun?
Wenn du dir vorstellst, neben dich selbst zu treten, dich anzuschauen und zu überlegen, was du fühlst und was der Grund dafür sein könnte, lernst du dich mit der Zeit immer besser kennen. Du bekommst ein Gefühl dafür, wie lange und wie intensiv du Aktivitäten oder Gesellschaft verträgst und dich dabei wohlfühlst. Du verstehst auch, wie oft und wie lange dir Ruhepausen und Allein-Aktivitäten gut tun, und wie du diese optimal für dich gestalten kannst. Du lernst deinen eigenen Intro-Rhythmus kennen.
Nach und nach kannst du versuchen, deine kennengelernten Grenzen ein Stückchen zu erweitern. Ganz sanft. Die Komfortzone in Minischritten verlassen. Und dann trittst du wieder ein Stück zurück und beobachtest, wie du dich damit fühlst, ein Stückchen außerhalb deiner bekannten Komfortzone zu stehen.
So lernst du dich selbst besser kennen, lernst, deine Grenzen langsam zu erweitern und gewinnst damit mehr Möglichkeiten, deinen Alltag und deine Bedürfnisse im Wohlfühlbereich zu leben. Und das bedeutet ein Stückchen mehr Freiheit.
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Die wichtigste Freiheit von Introvertierten
Freiheit ist für mich eines meiner größten und wichtigsten Bedürfnisse. Freiheit im Sinne von Selbstwirksamkeit und wenig Fremdbestimmung. Ich will selbst entscheiden, was ich tue und wann ich es tue. In den letzten Monaten hat sich für mich immer mehr herauskristallisiert, dass dies meine Basis für Wohlbefinden und Zufriedenheit ist.
Als Mutter ist diese Freiheit im Alltag nur ganz klein. Das Leben und die Bedürfnisse der Kinder stehen an erster Stelle, Fremdbestimmung pur. Aber ich habe mir diese Rolle gewünscht, und sie gibt mir an anderen Stellen viel zurück.
Umso wichtiger sind mir die Momente, die für mich wirkliche Freiheit bedeuten, und die ich äußerst pfleglich behandle und vor Störungen schütze. Es sind die Momente, in denen ich kurzzeitig aus meiner Mutterrolle aussteigen darf, und nur ich selbst sein kann. Ich habe mir diese regelmäßigen Momente eingerichtet, um meinem Freiheitsbedürfnis wenigstens ansatzweise gerecht zu werden.
Ich teile meine Freiheitsmomente sorgfältig ein in Ruhephasen, am liebsten mit einem guten Buch auf dem Sofa, in Aktivitäten und Leidenschaften (zum Beispiel Blogartikel schreiben!) und manchmal in soziale Unternehmungen. Wonach mir eben gerade ist, es ist ja mein Freiheitsmoment, den ich selbst gestalte. In meinem ganz persönlichen Intro-Rhythmus.
Was ist für dich am wichtigsten, um deinen eigenen Intro-Rhythmus leben zu können? Ich freue ich auf deine Erfahrungen, schreib mir gerne einen Kommentar!
Alles Liebe
Lena
Zum Weiterlesen:
Warum Stille und Alleinsein gesund sind
Carsten
Liebe Lena,
Du schreibst mir aus der Seele.
Ich versuche mich auch immer so gut wie möglich auf Gespräche vorzubereiten und diese Bilder die da in meinem Kopf entstehen, sehen manchmal aus wie abstrakte Entscheidungsbäume. Da meint man auf alle Eventualitäten die da auf einen zukommen können gut vorbereitet zu sein. Aber meistens kommt es dann doch anders, was mich dann auch schnell aus der Bahn wirft.
Wir Intros sind gefühlt häufig an unserer Belastungsgrenze. Von daher sind Auszeiten unheimlich wichtig. Ich versuche mich immer am Rand meiner Wohlfühlzone aufzuhalten. Auch wenn das mit Kindern ja nicht immer ganz einfach ist. Aber ich zwinge mich ab und zu zum Verlassen meiner Wohlfühlzone, also zu Dingen, die mir nicht unbedingt liegen. Das Kostet Kraft, ist aber manchmal auch ganz schön.
Ich finde Deine Artikel einfach toll. Danke Dafür. Schön, dass Du das machst und uns Intros zeigst dass, das wir nicht allein sind.
LG
Carsten
Lena
Hallo Carsten,
lieben Dank für dein Feedback und dein Lob!
Das Bild mit den Entscheidungsbäumen ist toll – ich weiß was du meinst. Manchmal hat man das Gefühl, dass das alles da im Kopf zu viel ist und auch unübersichtlich wird. Aber in den richtigen Situationen kann das dann auch von Vorteil sein, so vielfältig zu denken.
Die Wohlfühl- oder Komfortzone ist ja zum Glück nicht starr, sondern flexibel und veränderbar. Ich sage lieber, dass ich meine Komfortzone ausdehne statt zu verlassen, das fühlt sich dann leichter an und braucht weniger Mut. Und vielleicht kann ich sie dann ja sogar in ihrer neuen Größe belassen.
Liebe Grüße
Lena
dany
Hallo Liebe Leute,
ich merke gerade, dass diesen Artikel voll auf meine Partnerin zutrifst und würde gerne ein paar Tipps bekommen wie ich mit ihrem INto sein besser fordern und unterstützen kann?
Lena
Hallo Dany,
ich empfehle dir diesen Artikel über Introvertierte und Freundschaft: http://www.teamintrovertiert.de/introvertierte-und-freundschaft
Liebe Grüße
Lena