Introvertierte ticken anders als Extravertierte. Schon klar. Wissen wir aus eigener Erfahrung und haben wir schon viel drüber gelesen.
Wir sind lieber leise als laut, führen lieber tiefgreifende Gespräche als oberflächlichen Small Talk, reagieren eher vorsichtig und überlegt als spontan und impulsiv, sind auch mal gerne nur für uns und tanken in der Ruhe unsere Akkus wieder auf.
Mehr als eine Laune der Natur – ein Erfolgsrezept
Warum ist das eigentlich so? Eine Laune der Natur? Vielleicht. Ich würde es aber nicht als Laune, sondern als Erfolgsrezept der Evolution bezeichnen. Man schätzt, dass etwa ein Drittel bis die Hälfte aller Menschen introvertiert veranlagt sind, und zwar unabhängig vom Kulturkreis. Bis zu 50 %! Da kann man nicht mehr von Zufall sprechen.
Im Laufe von Zehntausenden von Jahren, in denen die Gattung Mensch die Erde bevölkert, haben sich die menschlichen Charaktereigenschaften durchgesetzt, die für das Überleben von Nutzen waren. Es hat sich herausgestellt, dass eine Mischung aus beiden Temperamenten das Erfolgsrezept für das Überleben einer Gruppe war. Die schnellen, risikofreudigeren, lauten Charaktere waren für den Fortbestand der Gattung Mensch ebenso wichtig wie die bedächtigeren, vorsichtigeren und stilleren Exemplare. Sonst wären die stillen Menschen von der Evolution schnell wieder aussortiert worden.
Es hatte in der Natur also durchaus einen Sinn, introvertiert zu sein, einen überlebenswichtigen Sinn.
Forscher haben sogar festgestellt, dass es auch in allen (!) Tierarten extravertierte und introvertierte Individuen gibt.
Um uns Introvertierten, aber auch den extravertierten Menschen um uns herum immer wieder zu verdeutlichen, wie wichtig und wertvoll wir mit unseren Stärken für die Gesellschaft sind, schreibe ich diesen Blog.
In diesem Artikel soll es aber um die biologischen Faktoren gehen, die verantwortlich dafür sind, ob wir nach innen oder nach außen gerichtete Menschen sind, und wie sich diese biologischen Unterschiede in unserem Verhalten bemerkbar machen.
Unterschiedliche Gehirnaktivitäten
In zahlreichen Untersuchungen über Extraversion und Introversion (u.a. Olsen Laney 2002) haben Wissenschaftler herausgefunden, dass die Gehirne von Extravertierten und Introvertierten tatsächlich anders arbeiten. Die Gehirne von introvertierten Menschen sind stärker durchblutet, vor allem in Bereichen, die an Planung, Gedächtnis, Erinnern und Problemlösungen beteiligt sind.
Denkprozesse in Intro-Gehirnen durchlaufen längere Wege, ziehen mehr Schleifen und binden mehr Informationen mit ein. Intros haben also tatsächlich eine „längere Leitung“!
Das ist der Grund dafür, warum wir bedachter vorgehen, über eine Antwort auf eine an uns gerichtete Frage länger nachdenken und unsere Meinung erst nach einer gewissen (Be-) Denkzeit äußern.
Ich spüre diese langen Gedankenschleifen täglich. Wenn ich zum Beispiel ein Buch lese, lese ich häufig einen Satz oder Absatz zweimal oder noch öfter, bis ich den Inhalt richtig verinnerlicht habe. Besonders bei Sachbüchern ist das oft so.
Darum kann ich auch schlecht Hörbücher hören: Während der Sprecher immer weiter und weiter liest, denke ich noch über einen bestimmten Satz nach und verpasse dann den nächsten Satz, den ich auch hören will, weil ich mich voll auf die Geschichte oder das Thema einlasse und ALLES davon mitbekommen möchte. Irgendwann wurde mir das zu stressig und ich habe das Thema Hörbücher weitestgehend aufgegeben. Beim Lesen fühle ich mich wohler, da kann ich in meinem eigenen Tempo vorankommen.
Für Extros, die gerne drauflos plappern und Gedanken häufig ohne darüber „nachzudenken“ unmittelbar aussprechen, sind die Bedenkzeiten, die wir Intros uns nehmen, zu langsam. Sie werden schnell ungeduldig mit uns. Kein Wunder, sie kennen ja nur ihre eigene Denk-Welt und Denk-Tempo und können nicht nachvollziehen, was in unseren Intro-Köpfen so los ist. Was wir alles in unsere Überlegungen einbeziehen, muss erst einmal sortiert, analysiert und bewertet werden!
Also, liebe Extros, seid geduldig mit uns Intros. Wir sind zwar langsamer als ihr, aber dafür dürft ihr euch darauf verlassen, dass das, was wir euch fertig überdacht mitteilen, viel Qualität und Wert hat!
Die Stärke der Extravertierten ist es, schnell und viel zu diskutieren. Die Stärke der Introvertierten ist es, kreative Lösungsvorschläge zu entwickeln.
Wie unser Nervensystem arbeitet
Bestimmt hast du schon einmal vom vegetativen (oder autonomen) Nervensystem gehört. Zu diesem gehören der Sympathikus und der Parasympathikus, die zwei Gegenspieler des vegetativen Nervensystems.
Der Sympathikus ist der sogenannte Aktivitätsnerv. Seine Aufgabe ist, den Körper auf Aktivität und Leistung einzustellen, z. B. durch die Erhöhung der Herzschlagfrequenz und einen insgesamt höheren Erregungszustand. Dies passiert durch den Botenstoff Dopamin, den wir auch als „Glückshormon“ kennen. Das Dopamin sorgt dafür, dass wir mehr Antrieb haben, motivierter und neugieriger sind und eine Belohnung unserer Aktivität erwarten.
Der Parasympathikus ist der Ruhenerv. Er sorgt mit dem Botenstoff Acetylcholin dafür, dass z. B. der Herzschlag gesenkt wird, und ist darum für die Erholung des Körpers zuständig. Er ist auch für unsere Konzentration und das Gedächtnis sowie für vorsichtiges Verhalten zuständig, so dass wir aufmerksamer hinsehen oder hinhören.
Das Temperament einer Person hängt davon ab, welcher der beiden Gegenspieler in ihm dominiert. Jeder hat seine ganz individuelle Komfortzone, in der eine bestimmte, individuelle Mischung der beiden Botenstoffe des vegetativen Nervensystems vorherrscht. Wenn dieser Zustand erreicht ist, fühlen wir uns am wohlsten und zufriedensten.
Wie du dir sicher schon denken kannst, fühlen wir Intros uns am besten, wenn unser Acetylcholin-Level höher ist als das Dopamin-Level. Diese Einstellung ist bei jedem Menschen individuell unterschiedlich und seit unserer Geburt ein unveränderlicher Teil von uns.
Ganz nüchtern betrachtet wird unser Temperament also von biologischen Vorgängen gesteuert, an denen wir nicht viel ändern können!
Unsere Gehirnzellen sind auf eine ständige äußere Reiz-Flut ausgelegt und können damit perfekt umgehen. Wenn Reize von außen zu lange ausbleiben, beginnt es, sich seine eigenen Reize zu schaffen (bis hin zu Halluzinationen), denn in einem vollkommen reizlosen Zustand kann es nicht funktionieren.
Dies fällt einem Extro-Gehirn deutlich schwerer und ist der Grund dafür, dass Extros sich ohne Außenreize schneller unwohl fühlen und sich Reize schaffen (sei es durch Medien, Beschäftigungen, Sozialkontakte usw.). Die Intro-Gehirne schaffen sich selbst stärkere innere Reize und arbeiten auch ohne Außenreize im Wohlfühlmodus – zum Beispiel, wenn wir alleine sind.
Bist du ein Angsthase?
Bei Introvertierten ist der Mandelkern, die sogenannte Amygdala, leichter erregbar als bei Extravertierten. Der Mandelkern ist der Teil unseres Gehirns, in dem unsere Gefühle zu einer bestimmten Situation analysiert werden, und der für unser Angstempfinden zuständig ist. Er reagiert bei introvertierten Menschen sensibler auf Neues wie auch auf fremde Menschen.
Sind Introvertierte also größere Angsthasen? Vielleicht, denn wir sind ja auch als eher vorsichtige Menschen bekannt. Wir handeln weniger risikoreich als Extros, was in vielen Situationen durchaus ein großer Vorteil ist. Vielleicht müssen wir uns weniger vor wilden Tieren in Acht nehmen als unsere Vorfahren, aber auch bei Börsenspekulationen oder geschäftlichen Entscheidungen führt ein bedachteres Vorgehen häufig zum gewünschten Erfolg.
Wenn du weißt, dass dein Angstzentrum leichter erregbar ist als bei extravertierten Menschen, dann weißt du auch, warum du ein eher sicherheitsorientierter Mensch bist. Die dopamingesteuerten Extros sind aufgrund ihrer Gehirnstrukturen leichter durch Belohnungsanreize zu motivieren als wir. Sie fühlen sich gut, wenn eine Belohnung für ihre Aktivität winkt. Intros dagegen fühlen sich gut, wenn ihr Bedürfnis nach Sicherheit befriedigt ist.
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Die Ursache für das unterschiedliche Temperament von Intros und Extros
Fassen wir noch einmal zusammen: Je nachdem, ob in unserem vegetativen Nervensystem der Sympathikus oder Parasympathikus dominiert, fühlen wir uns entweder in einem aktiven, erregten Zustand wohler oder in einem ruhigen, vorsichtigen Zustand.
Extros brauchen ein bestimmtes Dopamin-Level, um sich wohl zu fühlen. Das ist der Grund dafür, warum sie lieber in Gesellschaft sind als alleine, warum sie ihre Energien in einer aktiven Freizeitgestaltung sammeln und viele Reize von außen brauchen. Wenn sie zu wenig Anreize von außen bekommen, sind sie unterstimuliert, schnell gelangweilt und unruhig, sie sind sozusagen auf Dopaminentzug.
Wir Intros holen uns unsere Stimulation auch aus unserem Inneren (dies ist tatsächlich eine große Stärke von Introvertierten!), durch nachdenken, planen, kreativ sein. Zu viele Außenreize, die unseren Dopaminspiegel steigen lassen, führen bei uns daher schnell zu einer Überstimulation. Wir fühlen uns in einem ruhigen Zustand wohler, wenn der Parasympathikus genug Acetylcholin ausschüttet, und können dann am besten regenerieren und unsere Energiespeicher aufladen.
Jeder von uns hat sein individuell optimales Erregungsniveau. Introvertierte halten auch mal Trubel aus, aber die Dosis ist eine andere als bei Extravertierten!
Ich brauche z. B. sehr regelmäßig eine Zeit für mich alleine, um die vielen angesammelten Außenreize, die in der Familie, im Job, im Alltag auf mich einströmen, in Ruhe zu verarbeiten. In meinem Kopf ist dann so viel los, dass ich es noch nicht einmal mag, Musik anzumachen. Das ist in diesen Momenten schon zu viel Stimulation von außen und mein Körper signalisiert mir: Hey, mach das wieder aus, lass die Nerven erst mal in Ruhe ihren Speicher bearbeiten, dann hast du wieder Platz für neue Reize!
Für mich ist es unvorstellbar, das Radio, oder, schlimmer noch, den Fernseher ständig im Hintergrund laufen zu lassen. Viele können das ausblenden und sich trotzdem auf eine andere Sache konzentrieren. Ich kann das nicht, weil mein Gehirn auch diese Hintergrundreize ständig aufnimmt und verarbeiten will. Das kann auf die Dauer ganz schön anstrengend werden. Du kannst dir vorstellen, wie das auf einer Party für mich ist, mit dem ganzen Trubel, lauter Musik und vielen Gesprächen. Es tut mir leid, wenn die anderen mich ungesellig finden – aber spätestens nach ein paar Stunden brauche ich wieder meine Auszeit!
Ich bin gespannt, wie das bei dir ist: Wie viel Trubel, wie viele Reize kannst du aufnehmen, und wie schnell ist bei dir eine Grenze erreicht? Gibt es Situationen, in denen du so aktiv bist wie ein Extro und dich trotzdem noch wohl fühlst? Wie gestaltest du deine Auszeiten, um wieder neue Energie zu tanken? Schreibe mir gerne dazu persönlich oder in den Kommentaren!
Alles Liebe
Lena
PS: Dieser Artikel ist ein Auszug aus meinem Buch „Leidenschaftlich introvertiert“. Schau gerne mal rein.
Ulli
Mal einen medizinischen Aspekt zum Thema Intro / Extra:
Die Intros sind auf einem niedrigen intrinsischen Stresslevel.
Die Extras eher auf einem hohen Level.
Externe Einflüsse bringen den Intro auf ein höheres =ungewohntes Level
Bei Extras ist dieser Level ohnehin schon da, so dass sie gegenüber externem Stress weniger anfällig sind.
Im Ergebnis sind die Intros daher – statistisch – etwas anfälliger gegnüber Herzinfarkt und Schlaganfall.
Muss den Intros nicht gefallen – aber ist so.
Intros haben dafür den Vorteil, in der regel die angenehmeren Mitmenschen zu sein.
Und müssen sich daher nicht für ihre genetische Prägung auch nicht rechtfertigen.
Lena
Danke für die Ergänzung, Ulli!
Timo
Danke für den Artikel, ich wusste bis jetzt nicht, dass das sogar biologisch nachweisbar ist.
Lena
Sehr gerne, Timo.
Ich finde es wichtig, dass man sich diese Zusammenhänge klarmacht.
Liebe Grüße
Lena
Anja
Super toller Artikel, danke dafür! Sowas finde ich immer mega spannend, vor allem weil das nochmal bestätigt, dass jeder Versuch extrovertierter zu werden überhaupt keinen Sinn ergibt. Ich werd den Artikel teilen, find den super!
LG
Anja
Lena
Vielen Dank, Anja!
Barbara Stemmler
Das mit dem Schlaganfall kann ich bestätigen. Und meine ganz persönliche Erklärung für den Auslöser, ist der Stress gewesen!
Die Ärzte haben keine Ursache feststellen können und die einzige Erklärung war immer „das böse Rauchen“ .
Das dies nicht förderlich ist auch mir klar.
Vielen Dank für die Bestätigung meiner Selbstdiagnose und die wunderbare Erklärung ❣
Euer neues Teammitglied
Lena
Danke liebe Barbara, dass du deine Erfahrung hier teilst.
Alles Gute für dich!
Lena