Ich lese viel über Introversion, Hochsensibilität und Persönlichkeitsentwicklung. In Büchern, Magazinen und im Internet, zuhause auf dem Sofa, im Wartezimmer beim Arzt, im Garten auf dem Liegestuhl, im Urlaub, morgens, mittags, nachts. Typisch Intro: Wenn das Interesse erst einmal geweckt ist, sauge ich alles auf, was ich über mein Thema in die Hände kriege. Ich möchte einfach alles darüber wissen und freue mich über jede freie Minute, in der ich meine Ruhe habe und all die interessanten Texte lesen kann.
Das Big-Five-Persönlichkeitsmodell
Wenn man sich mit der Persönlichkeitsforschung beschäftigt, stößt man schnell auf den Namen Carl Gustav Jung. Der Schweizer Psychiater gilt als der Begründer der analytischen Psychologie und hat als erster die Begriffe Extraversion und Introversion eingeführt, die dann später auch in das „Big-Five-Persönlichkeitsmodell“ eingeflossen sind. Zu diesem Modell gehören neben Extraversion noch die Faktoren Offenheit für neue Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit und Neurotizismus (Neigung zu emotionaler Labilität).
Mit diesen fünf Faktoren kann eine Persönlichkeit sehr genau beschrieben werden. Sie bleiben ein Leben lang relativ stabil, sie sind feste, annähernd unveränderliche Charaktermerkmale.
Das ist alles sehr spannend, finde ich, und über das Big-Five-Modell könnte ich noch zahlreiche Artikel schreiben (Edit: Nun gibt es auch einen ausführlichen Artikel zu diesem Modell mit vielen Tipps, um die fünf Faktoren zu vertiefen). Aber eine Sache hat mich dabei regelrecht schockiert.
Vielleicht ist dir aufgefallen, dass ein Faktor des Big-Five-Modells Extraversion ist. Extraversion, nicht etwa Extraversion und Introversion!
Weiter erfuhr ich, dass die wissenschaftliche Psychologie Introversion nicht als Gegenpol zur Extraversion sieht, sondern nur als eine geringe Ausprägung von Extraversion in einer Persönlichkeit. Introversion ist für die Wissenschaft ein Mangel an Extraversion.
Ist Introversion nur ein Mangel an Extraversion?
Liebe/r introvertierte/r Leser/in, bist du auch so entsetzt wie ich? Unser wahrscheinlich stärkstes Charaktermerkmal, das bestimmt, wann und wie wir uns wohlfühlen, wie wir denken, wie wir mit anderen kommunizieren, wie unsere Energie fließt und unser Gehirn arbeitet – das soll nichts weiter sein als fehlende Extraversion?
Diesen Schock musste ich erst einmal verdauen und – wie wir Intros das eben so machen – etwas länger darüber nachdenken – und weiter in der Literatur zum Thema lesen.
Die Psychologen Neyer und Asendorpf („Psychologie der Persönlichkeit“) beschreiben Introversion ebenfalls auf eine Weise, bei der ich das Gefühl habe, dass mein Temperament, mein Charakter etwas Schwaches, Unsympathisches, Langweiliges ist. Nämlich das ausgeprägte Fehlen von Extraversion mit diesen typischen Verhaltensweisen:
- Aktivität: gemächlich, langsam, passiv
- Erlebnishunger: bedächtig, behutsam,
vorsichtig - Frohsinn: ernst, unbeeindruckt,
unbeteiligt - Herzlichkeit: abweisend, kühl,
zurückhaltend - Geselligkeit: distanziert, ungesellig,
verschlossen - Durchsetzungsfähigkeit:
entscheidungsschwach, unentschlossen, unterwürfig
Diese Beschreibungen klingen doch sehr unsympathisch, oder? Möchte ich mit jemandem, der diese Eigenschaften hat, befreundet sein? Auf den ersten Blick nein. Schon alleine die Überbegriffe der sechs Dimensionen sind so gewählt, dass sie bei Intros nur schwach ausgeprägt sind, bzw. ihnen diese Merkmale fehlen. Sie sind mir nicht neutral genug, sondern beschreiben extravertierte Persönlichkeitsmerkmale. Kein Wunder, wenn wir Intros denken, wir wären nicht genug so wie wir sind.
Beschreiben die oben genannten Eigenschaften auch meine eigene introvertierte Persönlichkeit und die anderer Introvertierter, die ich kenne? Einigen Begriffen kann ich zustimmen, anderen muss ich, zumindest auf mich bezogen, widersprechen. Ich bin vielleicht nicht die herzlichste Person, aber als kühl würde ich weder mich, noch viele andere Introvertierte bezeichnen. Im Gegenteil, ich habe viele Intros als besonders gefühlvoll und empathisch kennengelernt. Vielleicht zeigen sie diese Seite erst auf den zweiten Blick, aber als kühl würde ich sie niemals beschreiben.
Ich fühle mich auch nicht als eine gemächliche Person, und schon gar nicht passiv. Würde ich sonst diesen Blog betreiben? Der fordert doch ganz schön viel Aktivität, die sich jedoch, zugegeben, hauptsächlich am Laptop und in meinem Kopf abspielt (dort dafür aber umso lebhafter!).
Entscheidungsschwach mag ich mich auch nicht bezeichnen. Ich kann mich gut entscheiden, egal ob es um neue Schuhe, die nächste Urlaubsreise oder das Thema des nächsten Blogartikels geht. Ich kenne extravertierte Personen, die sich mit Entscheidungen deutlich schwerer tun als ich.
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Persönlichkeitsmerkmale zweiter Klasse
Die Wissenschaftler sind kluge Leute, und ihre Erkenntnisse stützen sich in der Regel auf eine umfassende Forschung. Ich gehe also davon aus, dass sie wissen, warum sie diese Formulierungen gewählt haben, die mir persönlich so gar nicht gefallen.
Außerdem sollten wir nicht vergessen, dass es nicht ausschließlich introvertierte und ausschließlich extravertierte Menschen gibt. Die meisten Menschen haben Eigenschaften von beiden Seiten in sich. Jedoch ist bei jedem die Tendenz entweder zur Extraversion oder Introversion mehr oder weniger stark ausgeprägt. In meinem Artikel 10 Eigenschaften, an denen du erkennst, ob du introvertiert bist kannst du das nachlesen.
Demnach sind auch die sechs Dimensionen, die oben beschrieben sind, individuell ganz unterschiedlich stark oder schwach ausgeprägt – es „fehlt“ also bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger in jeder einzelnen Dimension. Der eine ist etwas durchsetzungsstärker, der nächste sehr herzlich, dafür aber bedächtig und vorsichtig, manche sind geselliger und wieder andere sehr verschlossen. Trotzdem zählen wir uns alle zu den leisen Menschen, weil wir unsere Energie in der Ruhe sammeln und ein vielschichtigeres Innenleben haben als die Extravertierten.
Wir wissen, dass die Charaktereigenschaften von introvertierten Menschen in unserer westlichen Gesellschaft seit langem – noch bis heute! – als Schwäche angesehen werden. Immer wieder müssen wir Intros uns in den Medien anhören, lesen oder sehen, wie Offenheit, Geselligkeit, Lebhaftigkeit, Selbstdarstellung usw. als erstrebenswerte, erfolgsversprechende Persönlichkeitsmerkmale angepriesen werden. Und andersherum, dass das Fehlen dieser Eigenschaften als schwach, passiv, unsicher wahrgenommen wird.
Durch die wissenschaftliche Darstellung von Introversion als Mangel an Extraversion wird dieser einseitigen Bewertung von Extraversion und Introversion jedenfalls nicht entgegengewirkt.
Je extravertierter, desto besser also? Sind Persönlichkeitsmerkmale von Introvertierten nur Merkmale zweiter Klasse?
Wenn du schon ein paar Zeilen von mir auf diesem Blog gelesen hast, wirst du meine Antwort auf diese Frage schon ahnen: Auf gar keinen Fall!
Zeigt her eure Stärken!
Es wird Zeit, dass wir Introvertierten selbstbewusster
werden. Wir dürfen unsere Persönlichkeitsmerkmale nicht länger als Defizite
sehen und uns ständig bemühen, uns extravertierter zu machen als wir in
Wirklichkeit sind. Wir müssen uns unserer eigenen Stärken bewusst werden und diese
laut in die Welt hinausschreien der Welt zeigen, wie wertvoll und wichtig
wir in der Gesellschaft sind.
Das ist meine Vision: Ich möchte dir zeigen, was für ein toller, introvertierter Menschen du bist, wie stark du bist und wie du deine Stärken für dich und für andere einsetzen kannst.
Verabschiede dich von dem Gefühl, dass deine Persönlichkeit ein Mangel ist. Wenn du dir bewusst machst, welche Stärken du als Introvertierte/r hast, in welchen Bereichen du extravertierten Menschen sogar überlegen bist, dann kannst du mit wachsendem Selbstbewusstsein dein Leben gestalten. (Lies hier nach, welche Stärken Introvertierte haben.)
Schreibe deine Stärken auf, hänge dir den Zettel an den Kühlschrank oder über deinen Schreibtisch oder lege ihn auf deinen Nachttisch und lese ihn jeden Tag! Wenn du verinnerlichst, was dich stark macht, wirst du bald nicht mehr das Gefühl haben, anders sein zu wollen.
Im Gegenteil! Je länger ich mich mit meiner Introversion auseinandersetze, desto stolzer bin ich auf das, was ich kann und leiste (besonders auf die Dinge, die Extros nicht so gut können wie wir 😉). Und das ist jeden Tag aufs Neue ein wunderbares Gefühl!
Wie ist deine Meinung dazu? Empfindest du deine Introversion als einen Mangel? Mich würde sehr interessieren, wie du darüber denkst – schreibe es mir in den Kommentaren!
Alles Liebe
Lena
Zum Weiterlesen:
Das Big-Five-Persönlichkeitsmodell
12 Antworten für Introvertierte
Carolin Curant
Hallo Liebe Lena,
ich sehe mich auch als hochsensible, emphatische Introvertierte.
Nein, mittlerweile sehe ich es nicht mehr als Mangel. Auch nicht meine Hochsensibilität.
Ich sehe mich aber schon als einen offenen Menschen. Aber auf eine andere Art. Selbstdarstellung mag ich gar nicht. Aber ich bin machmal zu naiv, sehe überweigend das gute in anderen Menschen und spreche auch gerne über mein innenleben, WENN ich mich wohl fühle und wenn es Menschen sind denen ich mich zugehörig fühle.
Aber ich bin auch ehrlich, gefühle verstecken mag ich nicht. Wenn mir was nicht passt sag ich es. Freundlich lächeln, wenn es mir mal nicht gut geht, kann ich nicht.
Danke für deinen tollen Block. Ich lese immer mal wieder deine Texte.
Liebe Grüße, Carolin
Lena
Liebe Carolin,
das ist bei mir ähnlich. Offenheit – ja, wenn das Vertrauen vorhanden ist. Und dann auch gerne bis in die Tiefe. Gefühle verstecken mag ich ebenso wenig wie du, und ich kann es auch gar nicht gut. Ich glaube, man sieht mir immer ziemlich gut an, was ich denke oder fühle…
Ich freue mich sehr, dass dir der Blog gefällt!
Liebe Grüße
Lena
Silvia Spoerer
Liebe Lena,
ersteinmal vielen Dank für Deine wunderbare Arbeit, ich habe Deine Seite erst vor Kurzem auf Facebook entdeckt und bin sehr froh darüber! Ich finde mich in Deinen Texten total wieder…
Eine lange Zeit meines Lebens, vorallem als Schulkind, Jugendliche und junge Erwachsene habe ich mein Wesen als Mangel erlebt und sehr darunter gelitten. Um so mehr ich mich angleichen wollte, um so schlimmer habe ich diesen „Mangel“ in mir empfunden und mich selbst abgelehnt. Erst mit dem Älterwerden und der intensiven Beschäftigung mit Themen der Psychologie, Spiritualität und letztendlich mit meinem Selbst, konnte ich Frieden schließen mit mir und beginnen meine Qualitäten zu bemerken und zu schätzen. Deien Texte bestätigen mich darin, nochmal mein herzliches Dankeschön dafür!
Liebe Grüße von Silvia
Lena
Liebe Silvia,
es freut mich sehr, dass dir meine Texte gefallen! Und was du über dich schreibst, würde auch genauso in meinen Lebenslauf passen 🙂
Alles Liebe
Lena
Ralph M. Rickenbach
Bitte schreibe doch jeweils die Definition von Extraversion und Introversion der einzelnen Wissenschaftler auf. Diese unterscheiden sich oft, und sind oft ganz anders als bei Jung, und daraus wird die negative Konnotation von Introversion meist klar.
Leider wird in dem noch jungen Gebiet der Persönlichkeitsanalyse oft dasselbe Wort für unterschiedliche Dinge verwendet.
Lena
Hallo Ralph,
auf die Schnelle aus The International Dictionary of Psychology:
„Introversion ist eine grundlegende Persönlichkeitseigenschaft, die durch Beschäftigung mit dem Selbst, mangelnde Geselligkeit und Passivität gekennzeichnet ist.“
„Extraversion ist durch Interesse an der äußeren Welt gekennzeichnet und zeigt sich in Form von Selbstvertrauen, Geselligkeit, Durchsetzungswillen, Verlangen nach Nervenkitzel und Dominanz.“
Viele Grüße
Lena
Tina
Liebe Lena,
ich freue mich sehr darüber deine Seite gefunden zu haben.
Seit meiner Weiterbildung (2019) zur Arbeitserzieherin fallen mir immer mehr „Dinge“ auf, die in unserer Gesellschaft schief laufen.
Die „Lauten“ kommen schneller und leichter weiter, wobei die „Ruhigeren“ gefühlt doppelt soviel Leistung erbringen müssen um die gleiche Wertschätzung und Anerkennung zu bekommen, sei es in der Schule, im Alltag oder selbst bei Therapien.
Das will ich mit ändern, dazu beitragen, dass auch wir Introvertierten gehört werden.
Introversion ist kein Mangel, finde ich, sondern eine wunderbare Ergänzung zur Extroversion.
In der Vergangenheit gab es wohlsituierte Königreiche, hier war es auffällig dass die Balance der Menschen stimmte. Es gab Gelehrte (als Überbegriff der Introvertierten) die gut in Planung, Gestaltung, vorausschauendem Denken waren, als auch (nenne ich sie mal so) Verteidiger, die auf diese hörten und dann mit ihren Stärken auftraten, handelten und beschützen.
Wie wunderbar wäre es, wenn unsere Gesellschaft sich daran zurückerinnern würde?
Es gäbe Raum für beide Seiten und durch das Miteinander könnten wir alle profitieren.
So weit werde ich es sicherlich nicht schaffen aber ich möchte versuchen, so viel wie mir in meinem Rahmen möglich, aufzuklären und zu vereinen.
Lena
Liebe Tina,
ich freue mich sehr darüber, dass du deine Erfahrungen hier mit uns teilst. Wunderbar, dass du für dich eine Mission gefunden hast, dich für die Anerkennung von introvertierten Menschen und ihren Stärken einzusetzen!
Je mehr leise Menschen diesen Weg gehen, sich selbst erst einmal besser kennen- und verstehen lernen, um dann auch andere dabei zu unterstützen, desto mehr Aufmerksamkeit wird es auch in der Gesellschaft insgesamt für diese Themen geben.
Schön, dich auf dieser Reise mit an Bord zu haben, liebe Tina!
Alles Liebe
Lena