Wenn man ans Alleinsein denkt, kommen schnell Assoziationen wie Einsamkeit und soziale Isolation. Dass zwischenmenschliche Beziehungen und soziale Aktivitäten wichtig für unsere Gesundheit sind, wurde in zahlreichen Studien nachgewiesen. Wieso kann das Alleinsein, das Verbringen von Zeit nur mit sich selbst, trotzdem gesund sein?
Es kommt auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen sozialen Kontakten und der Zeit alleine an. Wann dieses Verhältnis ausgewogen ist, ist individuell ganz unterschiedlich. Bei mir ist das Bedürfnis nach Zeit, die ich alleine sein möchte, sehr groß. Es wird immer stärker, je länger ich unter Menschen bin. Auch darf die Zeitspanne, die ich alleine verbringe, gerne lang sein (ein paar Tage gehen durchaus klar).
Wenn mein Alleinzeit-Bedürfnis gestillt ist, freue ich mich auch wieder auf meine Familie, Freunde, neue Menschen. Dann kann ich diese sozialen Kontakte sehr genießen.
Bei anderen Menschen ist die Spanne, die sie alleine sein möchten, kürzer. Es gibt kein allgemeingültiges Zuviel oder Zuwenig bei der Dosis, sondern nur die, die für dich die richtige ist.
Die richtige Dosis an Alleinsein findest du für dich heraus, indem du dich beobachtest. Wann ist dir nach Ruhe zumute? Wie lange fühlst du dich damit wohl, allein zu sein? Mit der Zeit wirst du ein Gefühl dafür entwickeln, wieviel Alleinzeiten du in deinem Alltag einplanen solltest, um dich zufrieden und ausgeglichen zu fühlen.
Das ist schon der erste Grund, warum Alleinsein gesund ist: Sich wohlzufühlen wirkt sich immer positiv auf deine Gesundheit aus. Ergänzt mit regelmäßigen Momenten der Stille, tust du deinem Körper wirklich etwas Gutes.
Fünf Effekte von Alleinsein und Stille auf deine Gesundheit und dein Wohlbefinden
#1 Verarbeitung von Reizen
Wenn du deinem Gehirn eine Pause von äußeren Reizen gönnst, also keine Bilder, Geräusche, Gerüche, Geschmäcker und Gefühle auf dich einprasseln, dann hat es endlich Zeit, angestaute Eindrücke zu verarbeiten. Dein voller Speicher kann abgebaut werden. Wir Intros neigen dazu, von vielfältigen äußeren Eindrücken in eine Überstimulation zu rutschen, in der das Bedürfnis nach Abschalten und Ruhe sehr groß wird. Das gehört bei uns aufgrund der Strukturen unseres Nervensystems dazu.
Wenn du alleine für dich bist, baut sich die Überstimulation recht schnell ab, so dass du wieder deinen Wohlfühlmodus erreichst.
Wenn über lange Zeit sehr viele Reize auf deine Sinne einwirken – Bilder, Geräusche, Geschmäcker usw. -, dann stumpft die Wahrnehmung nach und nach ab. Das ist eine Schutzfunktion deines Gehirns: Wenn es viel auf einmal verarbeiten muss, stellt es seine Filter so ein, dass etwas weniger Reize durchkommen – weil es sonst überfordert wäre.
Darum ist es gut für deinen Kopf und deine Sinneswahrnehmungen, wenn du ihnen regelmäßig eine Ruhepause gibst. Die Regler deiner Sinne können sich dann feiner einstellen – und du nimmst hinterher wieder mehr aus deiner Umwelt wahr.
#2 Stresssymptome abbauen
Überstimulation wirkt wie Stress auf deinen Körper. Wenn dein Kopf die Chance hat, Überstimulation abzubauen und Eindrücke nach und nach zu verarbeiten, findet er wieder die Zeit, sich um die körperlichen Symptome von Stress zu kümmern – sie sind dann als Warnsignale nicht mehr notwendig.
Bluthochdruck, Atembeschwerden, Magen-Darm-Beschwerden, Kopf-, Nacken- oder Rückenschmerzen können Stresssymptome sein. Wenn du dir regelmäßig stille Momente nur für dich gönnst und damit Stress abbaust, können sie abnehmen oder verschwinden sogar ganz. (Es sei denn, es gibt andere Auslöser für diese Symptome – bitte nicht auf ärztlichen Rat verzichten!)
#3 Konzentration und Aufmerksamkeit
Du wirst mir sicherlich zustimmen, dass man, wenn man lange Zeit konzentriert arbeitet oder über komplizierte Probleme nachgrübelt, hinterher regelrecht körperlich erschöpft ist. Dein Gehirn verbraucht bei dieser Arbeit viel Energie. Wenn diese Energie verbraucht ist, geht nichts mehr. Ein müdes, überfordertes Gehirn lässt sich schnell ablenken. Es kann sich nicht mehr auf die Arbeit konzentrieren.
Darum bist du aufmerksamer, konzentrierter und produktiver, wenn du deinem Kopf zwischendurch kleine Denkpausen gibst. Einige Minuten mit wenig äußeren Reizen können viel bewirken. Es ist nachgewiesen, dass man viel Arbeit effizienter erledigt, wenn man regelmäßig Pausen einlegt.
Das Argument, bei Stress und Zeitdruck keine Zeit für eine kurze Pause zu haben, gilt also nicht. Im Gegenteil, nach einer Pause schaffst du mehr Arbeit in kürzerer Zeit, als wenn du durcharbeiten würdest (und da du konzentrierter bist, machst du auch weniger Fehler).
Je weniger Reizen du in der Pause ausgesetzt bist (Gespräche mit Kollegen, Social Media usw.), desto wirkungsvoller ist sie. Verbringe sie also am besten allein! Auch Lernen für Prüfungen oder ähnliches geht aus diesem Grund besser allein, weil du weniger Ablenkungen ausgesetzt bist.
#4 Dein Gehirn entwickelt sich in stillen Ruhephasen
Dein Gehirn verfügt über das sogenannte Ruhestandardnetz (Default Mode Network). Manche nennen es auch den „Tagträum-Modus“. Es ist ein System, das im Hintergrund arbeitet und erst richtig in Fahrt kommt, wenn du dich entspannst, zur Ruhe kommst, nichts tust. Mit ihm sind Hirnregionen verknüpft, die für deine Ideen und Emotionen, die Interpretation von Erfahrungen, für deine Fantasie und Kreativität, Lernen und Gedächtnis zuständig sind.
Wenn du dagegen mit etwas beschäftigt bist und dafür andere Hirnbereiche aktiv werden müssen, wird dein Ruhestandardnetz heruntergefahren.
Dein eigener Ruhezustand ist also in Wirklichkeit gar keiner – zumindest was dein Gehirn betrifft!
Nun ist dein Gehirn vergleichbar mit einem Muskel: Je mehr er benutzt wird, desto stärker und kräftiger wird er – er wächst.
Je öfter du deinem Ruhestandardnetz Zeit gibst, aktiv zu sein, desto besser kann es sich entfalten und entwickeln. Du merkst es daran, dass du kreativer bist, Problemlösungen findest, bessere Entscheidungen triffst und vielleicht sogar deine innere Stimme wieder wahrnehmen kannst.
Schon viele große Persönlichkeiten wie Goethe, Mozart, Picasso und Einstein wussten, dass Kreativität und große Werke nur aus der Stille heraus entstehen können.
Darum auch von mir eine klare Aufforderung an dich: Gib dich öfter mal dem Nichtstun, dem Tagträumen hin – und trainiere damit einen wichtigen Teil deines Gehirns!
#5 Alleinsein verbessert deine zwischenmenschlichen Beziehungen
Verwechsle Alleinsein nicht mit Einsamkeit. Alleinsein bedeutet, bewusst und freiwillig Zeit ohne andere Menschen zu verbringen. Einsamkeit hingegen ist ein Mangel an zwischenmenschlichen Beziehungen und das Gefühl, nicht dazugehörig zu sein.
Die positiven Erfahrungen, die du in deiner Alleinzeit machst (z.B. Konzentration und bessere Arbeitsergebnisse, Problemlösungen, aber auch Wohlbefinden, weniger Stresssymptome usw.), stärken dein Vertrauen in deine Selbstwirksamkeit und dein Selbstbewusstsein. Du entwickelst eine gute Selbst-Beziehung, die du wiederum ausstrahlst – eine hervorragende Basis für die Beziehungen zu deinen Mitmenschen!
Entdecke dich selbst und werde frei
Wenn du dich dem Alleinsein stellst, hast du die Chance, dich selbst zu entdecken. Du kannst diese Zeit nutzen, um in deinem eigenen Rhythmus zu leben, bist keiner Fremdbestimmung unterstellt. Du bist frei und unbeeinflusst und selbständig in deiner Zeiteinteilung, der Wahl deiner Aktivitäten, der inneren Einkehr.
Nimm dir Zeit für dich und deinen Körper, deine Gefühle, deine innere Stärke, deine tiefsten Ängste, deine sehnlichsten Wünsche, deine Fähigkeiten und Werte. In diesen Momenten bist du frei – frei von vergangenen Erfahrungen, frei von antrainierten Denk-, Fühl- und Verhaltensmustern, frei von Sorgen, Scham und Einsamkeit. Denn du bist an einem sicheren Ort – bei dir.
Was sind deine Erfahrungen mit der Zeit, die du allein verbringst? Tut sie dir auch körperlich gut? Findest du für dich genügend Momente der Stille? Schreib mir in den Kommentaren! Und teile diesen Artikel gerne mit anderen Menschen!
Alles Liebe
Lena
PS: Leider ist das Bedürfnis von uns Introvertierten nach Ruhe oft mit Vorurteilen verbunden. Hier schreibe ich über verschiedene Vorurteile, die du bestimmt auch kennst, und was wirklich dahinter steckt.
Zum Weiterlesen:
Frank
Hallo Lena,
vielen Dank für diesen wunderbaren Artikel.
Gerade Punkt 4 war mir als Intro gar nicht so sehr bewusst. Gespürt habe ich den Effekt jedoch schon seit langem.
In Bezug auf Stille genieße ich es, heute mehr Möglichkeiten zu haben, Ruhe um mich herum zu schaffen. Durch Arbeiten im Home-Office geht das sogar beruflich, was sich auch in der Leistung zeigt (wie meine Chefin bereits bemerkte).
Vielleicht liebe ich deshalb auch die Nachtstunden, denn sie sind still.
Alles Gute
Frank
Lena
Lieber Frank,
mir geht es auch so, dass ich die ruhigen Momente viel bewusster wahrnehme und genieße. Das tut jedesmal unglaublich gut.
Zu den Nachtstunden kam mir doch gleich ein Zitat von Goethe in den Sinn:
„Die frühe Nacht und die allgemeine Stille sind das Element, worin das Schreiben recht gut gedeiht.“ – ach, ich sehe gerade, es ist ja auch im Artikel.
In diesem Sinne ganz liebe Grüße
Lena