Wie wir unsere Stärken entdecken und so mehr Gelassenheit entwickeln
„Warum bist du eigentlich immer so still? Du musst mehr aus dir rauskommen!“
Erwarten die Leute wirklich, dass stille Menschen sich über diese Frage freuen und jubelnd aufspringen: „Du hast recht! Ab sofort quatsche ich ohne Pause und erzähle dir alles über meine geheimsten Gedanken!“??
Nein, das funktioniert natürlich nicht. Und so wirklich nachgedacht haben die Fragesteller auch nicht:
- Wenn Intros anfangen würden zu reden wie die Weltmeister, dann hätten sie selbst ja weniger Gelegenheit dazu und müssten mehr zuhören. Das würde ihnen auch nicht passen.
- Die Frage zeigt wenig Wertschätzung. Denn sie sagt indirekt aus, dass dem Fragesteller das Verhalten oder gar die Persönlichkeit des anderen nicht gefällt und er andere Erwartungen an ihn hat.
- Eine wertschätzende Frage, um echtes Interesse für die Gedanken eines introvertierten Menschen zu zeigen, könnte zum Beispiel lauten: „Was denkst du darüber?“
Auf der einen Seite bejubeln wir Individualität, sind beeindruckt von Menschen, die authentisch ihren eigenen Weg gehen. Aber andererseits fühlen wir uns doch im gesellschaftlichen Einheitsbrei am wohlsten und vertrautesten. Wer nicht passt, soll passend gemacht werden, bitteschön. Oder noch besser, sich selbst an die Erwartungen und Anforderungen der anderen anpassen.
Inzwischen sind mir die Gedanken an meine introvertierten Stärken und Potenziale so vertraut geworden, dass ich über die Eingangsfrage innerlich gelassen lächeln kann (und je nach Situation vielleicht sogar eine schlagfertige Antwort parat habe – ein paar Vorschläge habe ich hier für dich). Doch das war nicht immer so. Viele Jahre lang hat sie mich jedes Mal – und ich habe sie oft gehört – in tiefe Selbstzweifel gestürzt.
Bemerkungen wie „Du bist immer so still“ und ähnliche haben viele Fragen in mir ausgelöst:
- Habe ich wirklich nichts zu sagen?
- Habe ich vielleicht Angst, ausgelacht zu werden?
- Bin ich anders als alle anderen?
- Würde ich mich besser fühlen, wenn ich locker mitplaudern könnte?
- Langweile ich mich, wenn ich nichts sage?
Irgendwann wurde mir klar, dass die Antwort auf all diese Fragen immer „Nein“ lautet. Ich mache mir zu allem meine Gedanken, wenn ich anderen zuhöre, aber ich habe nicht immer den Drang, sie aussprechen zu müssen. Ich fühle mich in meiner Zuhörer- und Beobachterrolle meistens ganz wohl. Nur trifft dies bei anderen Menschen selten auf Verständnis oder Akzeptanz. Dass es auch eine ganz andere Seite von mir gibt, die sprudeln kann wie eine geschüttelte Colaflasche, das wissen nur wenige. Diese Seite zeigen ich nur Menschen, denen ich zutiefst vertraue und derer Wertschätzung ich mir sicher sein kann.
Es geht also um das eigene Selbstwertgefühl und das Verstummen unserer Selbstzweifel als introvertierte Menschen. Im Nachdenken und Reflektieren sind wir Weltmeister, warum also nicht auch über uns selbst und unsere Persönlichkeit? Aber sofort aus einer positiven, wertschätzenden und veränderten Perspektive!
Viele Inspirationen für ein starkes, introvertiertes Selbstwertgefühl findest du zum Beispiel in meinem Buch „Leidenschaftlich introvertiert“.
Wir haben in unserer Kultur tief verinnerlicht, dass extravertiertes Verhalten besser ist, beliebter und erfolgreicher macht. Darum tun sich viele so schwer damit, die starken Seiten von introvertierten Persönlichkeiten wahrzunehmen und wertzuschätzen. Doch bei allen Stärken und Vorteilen, die eine extravertierte Veranlagung mit sich bringt, brauchen wir Intros uns mit unseren Talenten nicht zu verstecken.
Extravertierte Menschen können eine Menge von uns Intros lernen, zum Beispiel:
- Wie man richtig zuhört.
- Wie man alleine sein kann, ohne einsam zu sein.
- Wie man sein kreatives Potenzial im Alleinsein entfaltet.
- Wie man durch Nachdenken und Abwägen gute Entscheidungen trifft.
- Wie man auf seine eigenen Bedürfnisse hört.
- Wie man von der Oberfläche in die Tiefe eintaucht.
- Wie man seine innere Ruhe findet.
- Wie man wirklich unabhängig denkt.
- Wie tiefe Freundschaften funktionieren.
- Wie sich Stille anfühlt.
All dies steckt in unserer introvertierten Persönlichkeit, und es lohnt sich, diese Potenziale näher anzuschauen und aufzuwecken. Es gibt vieles, in dem wir den extravertierten Menschen überlegen sind – wir müssen diese Stärken und Talente nur in uns entdecken, freilegen und ausbauen!
Je umfassender und tiefer wir uns selbst kennenlernen, desto stärker wachsen unser Selbstwertgefühl, unser Selbstvertrauen und unsere Akzeptanz für unsere eigene Individualität und die der anderen an. Lasst uns gemeinsam auf Entdeckungsreise in uns selbst gehen.
Was ist deine größte introvertierte Stärke? Was können Extros von dir lernen? Finde es heraus!
Alles Liebe
Isabelle
Danke für diesen tollen Artikel. Meine größte Stärke ist, dass ich es liebe, mal alleine zu sein, und dass die besten Ideen von ganz alleine in mir hochkommen, wenn ich mir genug Alleinezeit nehme.
Lena
Liebe Isabelle,
das geht mir auch so – kreativ bin ich nur, wenn ich alleine sein kann!
Liebe Grüße
Lena