Tage, Monate, Jahre vergehen wie im Flug. Immer schneller. Am Jahresende denke ich oft, dass das Jahr schnell vergangen ist. Dann frage ich mich, was dieses Jahr eigentlich ausgefüllt hat. Und hoffe, dass das nächste Jahr langsamer vergeht, voller ist an Erinnerungen, bewusster von mir erlebt wird.
Der (Zeit-) Fluss des Lebens
Die Zeit ist wie ein Fluss. An der Quelle, wie am Anfang des Lebens, plätschert er lustig und gemächlich vor sich hin. Das Wasser ist flach, umspült freudig jeden Stein, bringt die Pflanzen am Ufer ins Wogen. Alles ist noch neu und frisch.
Je weiter der Fluss fließt, desto größer wird er. Neues Wasser kommt hinzu, lässt ihn wachsen. Bald gehört es ganz selbstverständlich zu ihm. Er wird tiefer und fließt schneller. Einzelne Steine oder Pflanzen beeinflussen sein Fließen immer weniger, werden unbedeutend. Obwohl sie immer noch da sind. Aber sie sind nicht neu für den Fluss, und seine Strömung wird stärker.
Kleine Bäche kommen zu ihm und begleiten ihn. Er begrüßt sie, wächst und fließt weiter. Ab und an wird er unruhig, es kommt eine Stromschnelle. Doch danach kann er ruhig weiterfließen wie zuvor.
Manchmal stört ein Steg seine Strömung, oder Boote schwimmen auf ihm. Der Fluss fließt weiter. Bald kennt er auch die Stege und Boote. Es kommt kaum noch Neues hinzu, das Wasser kennt bereits alles. Unbeeindruckt strömt es weiter.
Bis es ans Ende kommt, an die Flussmündung. Die letzte Strecke ist das Wasser so schnell geflossen, dass es die Dinge um sich herum nur noch im Vorbeifließen wahrgenommen hat. Es fühlte sich gut an, so sicher und schnell voranzukommen, keine Hindernisse mehr nehmen zu müssen. Aber plötzlich ist er angekommen, wird eins mit dem Wasser der Welt.
Wie wir Zeit wahrnehmen
Zeit ist die Form, durch die der Inhalt Leben fließt. Je enger diese Form ist, desto weniger Leben fließt hindurch.
Uwe Böschemeyer
Albert Einstein hat in seiner Relativitätstheorie festgestellt, dass die Zeit keine feststehende Maßeinheit ist, sondern sich relativ zum Raum verhält und individuell unterschiedlich wahrgenommen wird. Eine Erkenntnis, die nur schwer vom menschlichen Verstand zu begreifen ist.
Wichtig zu wissen ist, dass unser Zeitempfinden eng mit unseren Erlebnissen, dem Verarbeiten von neuen Dingen und unserem gegenwärtigen Bewusstsein verknüpft ist.
Wenn wir etwas Neues lernen, hat unser Gehirn viel zu tun. Wenn du zum Beispiel tanzen lernst, musst du dich in den ersten Tanzstunden sehr auf deine Schritte konzentrieren. Im Gehirn sind diese Bewegungsabläufe noch nicht angelegt, es muss neue neuronale Verknüpfungen schaffen. Das funktioniert am besten, wenn du dich ganz darauf konzentrierst, was die Füße zu tun haben.
Mit jeder Trainingsstunde festigst du diese neuen Nervenbahnen und sie werden immer breiter. Wie eine unbefestigte Straße, die nach und nach ausgebaut wird. Irgendwann können die trainierten Bewegungsmuster abgerufen werden, weil die Nervenbahn eine breite Autobahn geworden ist. Dann ist nicht mehr deine volle Konzentration notwendig und deine Füße machen ihre Schritte automatisch.
Mit dem Zeitempfinden ist es ähnlich. Wenn wir eine neue Erfahrung machen, die unsere ganze Aufmerksamkeit fordert, wird viel Neues im Gehirn abgespeichert. Die ersten Tanzstunden kommen dir unglaublich lang vor, weil du konzentriert arbeitest.
Je routinierter du wirst, desto weniger Arbeit hat dein Gehirn. Die Tanzstunde vergeht schneller, und du bist erstaunt, dass die Zeit schon um ist.
Keine Zeit haben
Jeder kennt das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben. Es gibt Phasen im Leben, da hetzt man von einer Verpflichtung zur nächsten, der Tag könnte gerne ein paar Stunden mehr haben, und Freizeit kommt gefühlt viel zu kurz.
Aber das ist unsere persönliche Wahrnehmung. Wir lassen zu, dass unsere Zeit zu fremdbestimmt verteilt wird. Wir haben immer gute Gründe dafür, warum wir etwas tun müssen: Wir müssen Geld verdienen, wir müssen uns um Kinder und Angehörige kümmern, wir müssen noch den Abwasch machen und noch dies und noch das.
Ständige Betriebsamkeit ist das, was von uns erwartet wird. Wie oft hattest du schon ein schlechtes Gewissen, wenn du faul den Tag auf dem Sofa verplempert hast, obwohl noch Papierkram auf dem Schreibtisch wartet? Oder dir eine Auszeit im Liegestuhl in der Sonne gönnst, obwohl die Kinder quengeln, dass du doch endlich das neue Spiel mit ihnen spielen sollst?
Nichtstun, sich Zeit für Muße nehmen, hat für uns den negativen Beigeschmack unproduktiv zu sein, Zeit zu verschwenden, obwohl es vieles gibt, was wir unbedingt noch machen wollen (das neue Buch lesen, Blumen pflanzen, die interessante Ausstellung besuchen usw.).
Die Auszeiten, die Zeiten der Muße und der Stille sind genauso wichtig. Das haben wir nur vergessen. Sie tun uns seelisch und körperlich gut. Sie befreien uns von dem Zwang, immer aktiv sein zu müssen oder etwas Nützliches zu tun, und schenkt uns die Freiheit zum Genießen, zum sinnfreien Sein, zum Erleben von Momenten, die keinen anderen Zweck haben, als uns Freude zu bereiten. (Hier kannst du lesen, warum Alleinsein und Stille gesund sind.)
Zeit ist ein Geschenk, kein Besitz
Ständig denken wir daran, dass unsere Zeit „knapp“ ist, wir Zeit „sparen“ oder uns „nehmen“ wollen, wir optimieren unser „Zeitmanagement“, um Zeit zu „gewinnen“, wir „haben“ Zeit oder „haben sie nicht“. Wir behandeln unsere Zeit wie unseren Besitz, den wir bestmöglich zu verwalten versuchen. Aber das funktioniert natürlich nicht.
Zeit können wir nicht vermehren oder damit an der Börse handeln wie mit Wertpapieren. Zeit ist wie ein Raum, in dem unser Leben stattfindet. Wir selbst können hetzen oder trödeln, um Dinge in diesem Raum zu erledigen. Aber das tun wir mit uns selbst und nicht mit der Zeit.
Die Lebenszeit ist unser Geschenk. Wir sagen, dass Zeit „vergeht“, und das gibt uns das Gefühl, etwas verloren zu haben. Es ist eine Rückschau. Aber in Wahrheit ist es unser Leben, das wir leben dürfen, und zwar genau in diesem Zeit-Raum, der uns geschenkt ist.
Zeit entsteht für uns in jedem Moment neu, direkt vor unseren Füßen. Es ist der Blick nach vorne, auf jeden neuen Moment, der uns die Zeit als Geschenk erfahren lässt. Dann können wir auch Momente der Muße, des Nichtstuns, leichter genießen. Wir nehmen Abstand von der pausenlosen Betriebsamkeit unseres Alltags, und erfahren Pausen als wertvoll.
Routine ist überlebenswichtig
Für unsere Überlebensfähigkeit ist die Routine, die sich das Gehirn erarbeitet, enorm wichtig. Stell dir vor, du müsstest dich ständig auf alles konzentrieren! Schon beim Duschen morgens müsstest du dich ganz bewusst erst ausziehen, dann das Wasser anstellen, die Temperatur regulieren, dich einseifen, abspülen, kontrollieren ob keine Seifenreste mehr an dir kleben, die Dusche ausstellen, das Handtuch nehmen, dich überall abtrocken… Du wärst schon fix und fertig, bevor der Tag überhaupt begonnen hat. An den Rest des Tages und Dinge wie Autofahren, Arbeit, Kochen usw. wäre gar nicht zu denken!
Es würde dich viel zu viel Energie kosten. Darum laufen Dinge, die wir regelmäßig tun, irgendwann automatisch und unbewusst ab. Das fängt schon bei Babys an, die erst lernen müssen, einen Gegenstand mit den Händen zu greifen, und dies ganz konzentriert tun, bis die Hände es von alleine können.
Für unser Zeitempfinden bedeuten diese alltäglichen Routinen, dass sie nicht mehr bewusst wahrgenommen und als Erinnerungen gespeichert werden. Wir leben energiesparend, aber dadurch vielfach unbewusst.
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Das Zeitempfinden verändert sich
Noch ein Beispiel, das du bestimmt kennst: Wenn du in den Urlaub fährst, ist anfangs alles noch neu: Das Hotel oder die Ferienwohnung, die Umgebung, das Essen, die Menschen. Dein Gehirn nimmt viele neue Eindrücke auf. Nach den ersten Tagen hast du das Gefühl, dass du schon lange an deinem Urlaubsort bist, weil in deinem Kopf so viel davon abgespeichert wurde. Doch dann vergeht die zweite Urlaubshälfte deutlich schneller. Es ist jetzt nicht mehr so viel neu, es haben sich kleine Urlaubsroutinen entwickelt. Und plötzlich ist der Urlaub schon vorbei.
Wenn du dann ein paar Wochen später daran zurückdenkst, kommt dir die eine Woche Urlaub länger vor als die Wochen danach zusammengenommen. Warum? Weil du mehr verschiedene Erinnerungen an diese Urlaubswoche hast und abrufen kannst, als an deine Alltagsroutinen zuhause.
Viele Erinnerungen nehmen einen großen Raum im Kopf ein, und entsprechend fühlt sich der Zeitraum in der Erinnerung lang an.
Wenn du einige Zeit immer dasselbe tust, kommt dir diese Zeit rückblickend sehr kurz vor, weil nur wenige Erinnerungen abgespeichert wurden.
Genau umgekehrt ist das gegenwärtige Zeitempfinden: Wenn du dich langweilst, also nichts Neues passiert, vergeht die Zeit langsam. Wenn du viel unternimmst, vergeht die Zeit wie im Flug. Fast schon paradox, oder?
Zeitliche Entfernungen führen uns auch oft in die Irre. Die letzte Fußball-Europameisterschaft ist mir noch ganz präsent, weil mich die Isländer damals so begeistert haben. Ich bin ganz erstaunt, wenn ich mir klarmache, dass das schon wieder fast vier Jahre her ist. Es kommt mir viel näher vor, weil die Erinnerungen daran so lebhaft sind und es dazwischen auch keine Fussball-Europameisterschaft gab, die neue Erinnerungen geschaffen hätte (die WM war für mich lange nicht so spannend).
Andere Zeiträume empfinde ich im Vergleich als sehr kurz. In den letzten Monaten habe ich diesen Blog ins Leben gerufen und mir unglaublich viel neues Wissen angeeignet, neue Technik gelernt und natürlich viel Text produziert. Manchmal kommt es mir so vor, als ob ich schon Jahre daran arbeite (weil es so viel Neues ist!), dabei sind es erst einige Monate.
Wie kannst du dein Zeitempfinden beeinflussen?
Wenn du bis hierher gelesen hast, wirst du die Antwort schon kennen: Dein Leben rauscht schneller an dir vorbei, je mehr du in Routinen steckst und Dinge sich wiederholen. Kannst du dich noch an jedes einzelne Weihnachtsfest in deinem Leben erinnern? Wenn sie, so wie bei mir, immer ähnlich ablaufen, verschwimmen sie in der Erinnerung ineinander.
Je öfter du deine Routinen unterbrichst und dich bewusst neuen Erfahrungen aussetzt, je mehr neue Erinnerungen du abspeicherst, desto größer wirst du Zeiträume empfinden. Je mehr Neues dabei ist, desto ausgefüllter (und länger) empfindest du dein Leben.
Eigentlich keine überraschende Erkenntnis, oder?
Doch jetzt wird es haarig: Für uns Intros sind es gerade die Routinen, die unsere sich schnell verbrauchenden Energiereserven schonen. Und wir brauchen gerade die Auszeiten, den Rückzug, um unsere Sinnesreize zu verarbeiten und abzubauen. Es fällt uns schwer, unsere Routinen zu verlassen, da es uns jedes Mal viel Energie kostet.
Als Intro etwas für deine Zeit tun
Als Intros sind wir nicht dazu verdammt, uns dem Nichtstun hinzugeben, als Ausrede dafür, unsere Akkus aufladen zu müssen. Hin und wieder – ja, keine Frage. Dann aber mit bewusstem Genuss. Sonne tanken im Liegestuhl. Meditieren. Achtsamkeit üben. Träumen. Kleine, genussvolle Auszeiten im Alltag. Netflix sollte nur begrenzt dazu zählen 😉.
Doch dann darf auch wieder Zeit dafür kommen, dem Kopf etwas Neues zu bieten. Um deine Energien nicht zu überstrapazieren, rate ich dir nicht, deine Komfortzone überhastet zu verlassen.
Ich rate dir aber, sie immer mal wieder ein Stückchen auszudehnen, wie einen Hefeteig, den man mit jeder Bewegung der Teigrolle ein wenig vergrößert. Geh doch mal nachsehen, was sich gleich hinter dem Rand deiner Komfortzone bzw. deiner Routinen befindet! Und was du davon ausprobieren möchtest.
Ich habe zum Beispiel vor kurzem ein Stimmtraining begonnen. Laut sprechen, die Stimme trainieren, ist für einen stillen Menschen wie mich schon deutlich außerhalb der Komfortzone. Aber es geht, es macht Spaß! Und ich entdecke mich selbst wieder ein Stückchen neu. Meine Komfortzone ist seitdem gewachsen.
Die Auszeiten, die du zum Regenerieren brauchst, sollst du nicht aufgeben. Im Gegenteil, sie sind für uns Intros wichtig für unser inneres Gleichgewicht. Aber du kannst sie mit Aktivitäten ausfüllen, die dir neue Erfahrungen verschaffen UND dir dennoch Energie spenden.
Ich denke da z.B. an Lesen, etwas Neues lernen, kleine Projekte planen, für die du dich begeisterst (z.B. den nächsten Urlaub?), schöne Erinnerungen im Kopf noch einmal nacherleben, kreativen Beschäftigungen nachgehen, dich selbst reflektieren und dein Verhalten beobachten, um dich und deine Bedürfnisse besser kennenzulernen,… Welche Beschäftigungen das für dich sind, musst du selbst herausfinden.
Lange Zeiträume wirst du in der Rückschau nicht mehr als leer und verloren ansehen, sondern sie mit vielen schönen Erinnerungen gefüllt haben. Und das ist doch schon mal etwas, oder?
Ich würde sehr gerne wissen, wie dein Zeitempfinden ist, und welche Erfahrungen du damit gesammelt hast. Teile sie doch mit uns in den Kommentaren!
Alles Liebe
Lena
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