Eine gute Freundin von mir lebt viele hundert Kilometer entfernt. Wir telefonieren häufig und besuchen uns ab und zu. Uns beiden liegt viel an unserer Freundschaft, die bis in den Kindergarten zurückreicht, und wir bemühen uns, den Kontakt trotz der Entfernung nicht abreißen zu lassen.
Aber manchmal liegen doch Wochen oder sogar mehrere Monate zwischen zwei Telefonaten. Dann denke ich, dass ich mich in einer ruhigen Minute mal wieder bei ihr melden muss. Schließlich habe ich ihr versprochen, mich nach Weihnachten zu melden. Es vergehen Tage, ohne dass eine ruhige Minute für dieses Telefonat kommt. Oder ich fühle mich einfach zu müde. Oder ich mag gerade gar nicht telefonieren. Dabei hat sie mir beim letzten Mal doch von ihrer Fortbildung erzählt, und ich will mich erkundigen, ob sie sie erfolgreich beendet hat. Ich will eine gute Freundin sein.
Ich habe Schuldgefühle. Ich rede mir ein, dass ich mich zu selten bei ihr melde. Dass ich ihr das Gefühl gebe, dass sie mir nicht so wichtig ist. Ich habe mein Versprechen nicht eingehalten, und je länger ich das Telefonat herausschiebe, desto mehr wächst meine Schuld. Denke ich.
Woher kommen Schuldgefühle?
Schuldgefühle entstehen, wenn man glaubt, etwas Falsches getan oder gesagt zu haben. Oder etwas Richtiges nicht getan zu haben. Oder nicht fähig/erfahren/talentiert/gut genug zu sein für eine bevorstehende Aufgabe. Oder eine falsche Entscheidung zu treffen – oder gar keine. Gründe gibt es reichlich und sie sind an jeder Ecke und zu jeder Jahreszeit zu bekommen.
Das Problem ist, dass sie sich selbst verstärken. Indem wir uns im Kopf mit unser Missetat beschäftigen, die schlechten Gefühle immer wieder von neuem aufleben lassen, wachsen sie immer weiter an und bekommen ein Ausmaß, dass der Realität längst entwachsen ist. Das Gefühl ist unangemessen groß geworden.
Das Gefühl, schuldig zu sein, entsteht nur in uns selbst. In unserem Bild von der Wirklichkeit um uns herum. Und dieses Bild entsteht aus unseren Erfahrungen, Überzeugungen und Wünschen, unserer Erziehung und unserer Kultur, äußeren Einflüssen und inneren Werten. Es ist unsere ganz persönliche Welt, in der wir leben, und in der wir glauben, uns schuldig fühlen zu müssen. Für was auch immer.
Sichtbar werden unsere Schuldgefühle, wenn wir uns oft entschuldigen.
Perfektionismus ist auch so ein dankbarer Grund für Schuldgefühle. Wir setzen uns hohe, eigentlich unerreichbare Standards, und fühlen uns schuldig, wenn wir sie nicht erreichen. Jeden einzelnen Fehler werfen wir uns selbst vor, anstatt stolz auf die siebenundneunzig Dinge zu sein, die uns gut gelungen sind.
Besonders wir Introvertierte finden genug Gründe, um uns schuldig zu fühlen. Zum Beispiel dafür, dass wir nicht so ganz dem Idealbild entsprechen, dass uns vorgelebt wird.
Wir fühlen uns schuldig, weil wir oft so still (und nicht unterhaltsam) sind.
Wir fühlen uns schuldig, wenn wir uns früh von einer Party verabschieden (und so ungesellig sind) oder gar eine Einladung absagen (und unsere Freunde enttäuschen).
Wir fühlen uns schuldig, wenn wir uns Zeit für uns nehmen (und dabei die Familie vernachlässigen).
Wir fühlen uns schuldig, abweisend zu sein (obwohl wir einfach nur müde und überreizt sind).
Wir fühlen uns schuldig, nicht extravertierter sein zu können (und introvertiert zu sein ist ja nicht gerade beliebt).
Die Liste lässt sich unendlich fortsetzen. Wir glauben (oder reden uns ein), dass wir uns anders verhalten müssten, als es unseren eigenen Bedürfnissen entspricht.
Der Teufelskreis der Schuld
Schuldgefühle haben ein leichtes Spiel, wenn ein Konflikt zwischen den eigenen Erwartungen, den Erwartungen der anderen und den eigenen Bedürfnissen entsteht. Wir machen uns selbst Vorwürfe, dass das alles nicht richtig zusammenpassen will.
Selbstvorwürfe haben leider immer die Folge, dass unser Umfeld uns diese Gefühle widerspiegelt– indem andere uns ebefalls Vorwürfe machen. Sie verstärken sich so von alleine.
Das Fatale an der Sache ist, dass sich diese ganzen Schuldgefühle und Vorwürfe im Kopf einnisten und festkrallen. Sie tauchen immer wieder auf, wenn wir drohen uns gut zu fühlen. Sie lassen uns glauben, dass wir nicht liebenswert sind, nicht wertvoll genug für andere. Schließlich sind da ja diese ganzen Dinge, die wir falsch gemacht oder nicht gemacht oder nicht gut genug gemacht haben.
Eng verbunden mit der Schuld ist die Scham. Wir schämen uns für die Fehler, die wir gemacht haben, und ziehen uns noch mehr zurück. Doch wie weit soll man sich denn zurückziehen, wenn man sowieso schon ein zurückgezogener, introvertierter Mensch ist? Irgendwann wird es schwierig, da wieder herauszukommen, wenn man so tief drinsteckt.
Für Introvertierte entsteht schnell ein Teufelskreis: Wir glauben, dass die Dinge, die uns stören, die anderen im gleichen Maße stören. Wir machen uns viele Gedanken über Kleinigkeiten und schämen uns für ein winziges Fehlverhalten, wie z.B. jemanden beim Sprechen unterbrochen zu haben. Der andere versteht aber nicht, warum wir uns gerade schlecht fühlen, bezieht es womöglich auf sich und reagiert ungehalten. Wir fühlen uns noch schuldiger, schämen uns und denken wochenlang an nichts anderes als unseren Fehltritt und den (in unseren Augen berechtigten) Ärger des anderen – und retten die Welt vor uns, indem wir uns erstmal nicht mehr blicken lassen.
Was ich hier etwas überzogen beschreibe, kennst du bestimmt auch zur Genüge. Intros nehmen die Welt durch eine andere Brille wahr als Extros, und das bietet jede Menge Zündstoff für Missverständnisse. Höchste Zeit also, dich mit deinen Schuldgefühlen zu beschäftigen und ihnen in Zukunft nicht mehr die Macht zu geben, dein Leben zu dirigieren.
Die „Ja, und“-Übung
Die erste Übung, die ich dir gerne vorstellen möchte, um dich von zu starken Schuldgefühlen zu befreien, ist eine Übung zur Selbstreflexion. Der erste Schritt ist es immer, sich das anzuschauen, was gerade passiert. In diesem Fall in deinem Kopf.
Wenn du beim nächsten Mal bemerkst, dass du negative Gedanken über eine Situation hast, die sich zu waschechten Schuldgefühlen entwickeln könnten, dann tritt innerlich für einen Moment zurück und frage dich:
„Ist es wirklich wahr, was ich darüber denke?“
Die nächste Frage, die du dir selbst stellst, lautet:
„Was könnte es noch für Wahrheiten über diese Sache geben?“
Wenn du Frage 1 mit „Nein“ beantwortest, hast du schon gewonnen. Deine Gedanken sind gezwungen, sich in eine neue Richtung weiterzuentwickeln.
Wenn du Frage 1 mit „Ja“ beantwortest, ist das auch nicht schlimm. Denn dann kommt Frage 2 ins Spiel. Du darfst dir zu dieser Frage die kreativsten Antworten ausdenken, sie dürfen auch ein wenig verrückt und unwahrscheinlich sein. Wichtig ist nur, dass am Ende ein „Ja, und“ herauskommt:
Ja, es könnte wirklich wahr sein, und es könnte auch der andere Gedanke stimmen.
Zum Beispiel:
Ja, es könnte wirklich wahr sein, dass ich meine beste Freundin vernachlässige, und es könnte auch sein, dass sie im Moment sehr gestresst ist und gar keine Lust hat, mit mir zu telefonieren. Und es könnte auch wahr sein, dass sie viel an mich denkt und selbst ein schlechtes Gewissen hat. Und es könnte wahr sein, dass sie gerade eine Expeditionsreise nach Südamerika plant und wenn ich sie jetzt mit meinem Gequatsche nerve, dann halte ich sie vielleicht davon ab, einen wichtigen Impftermin zu vereinbaren und dann wird sie krank auf ihrer Reise (wer weiß?!).
Der Vorteil dieser Übung ist: Wenn du mehrere Optionen zulässt, kriegen die Gedanken der Schuld ebenbürtige Konkurrenz.
Deine Selbstliebe stärken
Es ist normal und menschlich, dass wir Fehler machen. Und zwar mehr als einen. Wahrscheinlich häuft jeder in seinem Leben einen riesigen Fehlerberg an. Ein Paradies für unsere Schuldgefühle.
Dabei kommt es auch vor, dass wir andere Menschen verletzen. Dann sind unsere Schuldgefühle hinterher besonders groß. Mach dir bewusst, dass du nicht aus böser Absicht gehandelt hast. Vielleicht wolltest du wirklich jemanden verletzen. Aber warum? Weil du wütend warst, oder selbst verletzt. Es war eine Verletzung in dir, die dich zu dieser Handlung getrieben hat. Du hast in dem Moment keine andere Alternative sehen können, sondern musstest so handeln, um dich selbst zu schützen.
Und weil das bei dir so war, ist es auch bei anderen Menschen, die dich verletzen, so. Sie handeln auch aus ihren Gefühlen heraus, und können in dem Moment nicht anders. Verletzendes Verhalten hat immer eine Ursache, und die hat mit dem Menschen selbst zu tun, der so handelt.
Bevor wir uns damit beschäftigen, wie wir uns selbst für unser Verhalten vergeben können, möchte ich dir noch drei weitere Übungen vorstellen, die deine Selbstliebe stärken. Je mehr Verständnis und Anerkennung du für dich selbst entwickelst, desto leichter wird es dir fallen, mit Distanz und Wohlwollen auf dein eigenes Verhalten und das anderer Menschen zu schauen. Tiefer zu schauen. Ich halte Selbstliebe (und damit verbundenes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen) für die wichtigste Grundlage, um ein Leben nach den eigenen Wünschen und Bedürfnissen gestalten zu können.
Und dann fällt die Selbstvergebung – und damit die Beruhigung unserer Schuldgefühle – nicht mehr schwer.
Selbstliebe-Übung: Ausnahmen finden
In dieser Übung geht es darum, ähnlich wie in der „Ja, und“-Übung, dir selbst bewusst zu machen, dass dein falsches Verhalten eine Ausnahme war und in keiner Weise ein vollständiges Bild deiner Persönlichkeit liefert. Dazu helfen dir diese Fragen:
- In welcher ähnlichen Situation habe ich mich richtig gut verhalten? Wann, wo, mit wem?
- Gab es auch positive Folgen, trotz meines Verhaltens bzw. meiner Schwäche?
- Habe ich mein falsches Verhalten durch etwas anderes ausgeglichen, auf das ich stolz sein darf?
- In welchen Situationen könnte dieses Verhalten sogar hilfreich bzw. eine Stärke sein?
- Was lerne ich daraus, was weiß ich jetzt besser (und zwar nur, weil ich genau diese Erfahrung gemacht habe)?
Finger-Übung
Diese Übung ist sehr hilfreich, wenn du dich besonders niedergeschlagen fühlst und die Schuldgefühle dein ganzes Denken beherrschen. Sie hilft dir, dich wieder besser zu fühlen und auf positivere Gedanken zu kommen.
Entspanne dich zunächst, indem du deine Augen schließt und für vier bis fünf Atemzüge nur auf das Ein- und Ausströmen deiner Atemluft achtest. Wenn du dich ein wenig entspannter fühlst (ein winziges bißchen entspannter reicht schon), richte deine Aufmerksamkeit auf deine dominante Hand.
Berühre mit dem Daumen die Spitze deines Zeigefingers. Denke dabei an ein Ereignis in deiner Vergangenheit, in dem du dich geliebt und richtig glücklich gefühlt hast. Es kann aus der Kindheit sein, oder aus den letzten Tagen. Verweile für ein paar Sekunden in diesem Gefühl, oder solange du willst.
Dann berührst du mit dem Daumen deinen Mittelfinger der gleichen Hand. Erinnere dich an einen eigenen Erfolg: bestandenen Prüfung, Beförderung, Projektabschluss, Geburt eines Kindes, … Hauptsache, das Erfolgsgefühl ist stark.
Als nächstes berühren sich Daumen und Ringfinger. Denke jetzt an etwas, das jemand für dich getan hat, und wofür du sehr dankbar bist. An die Nachbarin, die deine Katze im Urlaub gefüttert hat. Oder die Freundin, die für dich eingekauft hat, als du krank warst.
Zuletzt ist der kleine Finger dran. Suche nach einem starken Gefühl für Liebe, die tief aus deinem Herzen kommt.
Wiederhole diese Fingerübung immer, wenn du gute Gefühle brauchst. Sie verankern sich in den Berührungspunkten, und werden sofort ausgelöst, sobald du diese Berührung spürst. Sie helfen dir, dich immer und überall an deine guten Gefühle zu erinnern.
Übung: Selbstliebe-Affirmation
Eine wirksame Affirmation, die mir jeden Tag hilft, meine Selbstliebe zu stärken:
Heute mag ich mich mehr als gestern. Morgen werde ich mich noch mehr mögen als heute.
Sie wirkt, weil jeden Tag ein „mehr“ damit verbunden ist.
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Sich selbst vergeben
Wenn wir unsere Schuldgefühle auflösen wollen, müssen wir uns selbst für das vergeben, was wir getan (oder nicht getan) haben. Wir vergeben uns, weil es gute Gründe für unser Verhalten gab (siehe Abschnitt zur Selbstliebe). Auch wenn unser Verhalten nicht richtig war, so gab es in dem Moment gute Gründe dafür. Wir sehen und verstehen sie nicht immer, aber sie sind immer da.
Wir dürfen uns selbst vergeben, denn wir sind nicht als Menschen falsch und fehlerhaft, sondern es ist unsere eigene innere Überzeugung, falsch gehandelt zu haben.
Vergebung bedeutet, dass wir unsere innere Überzeugung verändern und den Widerstand gegen unser eigenes Verhalten auflösen.
Wenn wir uns schuldig fühlen, dann fühlen wir uns als Opfer unseres eigenen Verhaltens. Wenn wir uns vergeben, dann übernehmen wir VerAntwortung für uns und verändern die Antwort, die wir unserem Verhalten geben. Wir verstehen, dass es einen Grund in uns gibt, der unser Handeln ausgelöst hat. Dieser Grund kann Selbstschutz sein. Es können auch unsere verinnerlichten Muster und Überzeugungen sein, die sich im Laufe unseres Lebens in uns entwickelt haben.
Damit wollen wir nicht unser falsches Verhalten gutheißen oder rechtfertigen. Wir wollen es nur verstehen, um die tiefliegenden Gründe dafür zu erfahren und bestenfalls aufzulösen. Und um daraus zu lernen und ein besseres Verhalten in der Zukunft möglich zu machen.
Hinterher ist man ja bekanntlich immer schlauer. Aber man ist nur schlauer, gerade WEIL man diese Erfahrung gemacht und daraus gelernt hat.
Übung zur Selbstvergebung
Die folgenden Fragen solltest du am besten schriftlich beantworten. Lass dir damit Zeit, horche tief in dich hinein und achte darauf, was für Antworten aus deinem Inneren hervorkommen.
- Was möchte ich mir selbst vergeben? Wo habe ich falsch gehandelt?
- Wie denke ich über mich aufgrund dieses Verhaltens?
- Was hat mein Verhalten ausgelöst? Welche Gefühle in mir waren vorhanden? Warum waren diese Gefühle da?
- Wie kann ich die Situation aus einer anderen Perspektive beschreiben? Wie würde ich die Situation ohne meine Schuldgefühle bewerten?
- Was wollte ich wirklich mit meinem Verhalten erreichen, für mich?
- Wie denke ich über mich ohne diese Schuldgefühle?
- Was weiß ich heute, dank dieser Erfahrung?
Schreibe dir nun selbst eine Entschuldigung oder sprich sie aus: Es tut mir leid. Ich habe das getan, weil… Ich vergebe mir und lasse alle Gefühle der Schuld und Scham über mein Verhalten los. Ich liebe mich.
Ich wünsche dir, dass du deine Schuldgefühle nun besser wieder ziehenlassen kannst. Vor allem die Schuldgefühle, die mit deiner introvertierten Persönlichkeit verbunden sind.
Eine aktuelle Artikelserie über Schuldgefühle findest du auch auf dieser Seite: https://www.erstehilfefuerdieseele.at/blog/schuldgefuhle/
Alles Liebe
Lena
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