Wie Kategorien uns helfen können, einen neuen Blickwinkel einzunehmen
Ich beschäftige mich viel mit Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung. Diese Themen finde ich spannend und vielseitig, und sie haben mich dazu inspiriert, einen Blog und ein Buch für introvertierte Menschen zu schreiben. Sie haben auch meinen Blick für die Menschen in meinem Umfeld verändert. Das heißt nicht, dass ich versuche, jeden Menschen zu analysieren. Mein Blick hat sich aber für die feineren Merkmale geöffnet, hat sich von den Oberflächlichkeiten mehr in die Tiefe bewegt. Ich beobachte Menschen anders, erkenne Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf einer neuen Ebene und urteile weniger schnell.
Manchmal muss ich mich daran erinnern, dass ich diesen neuen, tieferen Blick über die Jahre entwickelt habe, und nicht alle die Menschen um sich herum auf diese Art wahrnehmen. Wer kein Interesse für die vielfältigen Persönlichkeitsmerkmale hat, wer auch noch nicht viel über sich selbst, die eigenen Werte, Bedürfnisse, Prägungen usw. nachgedacht hat – wer Selbstreflexion nicht kennt -, der kann kein feines Gespür für Persönlichkeiten entwickelt haben. Dann bleibt man an der Oberfläche der Menschen haften und erkennt nur die offensichtlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Dann glaubt man auch leicht, dass alle genauso denken und fühlen müssen wie man selbst, die gleichen übergeordneten Ziele haben (z.B. viel Geld verdienen), die gleichen Routinen gut finden oder auch nicht, im gleichen Wertesystem leben und so weiter. Man hat kein Gespür für die feinen Unterschiede, zum Beispiel, dass man im Detail etwas besser oder schlechter kann als jemand anderes, auch wenn beide auf den ersten Blick ihre Sache gleich gut machen.
Dabei habe ich meinen Blick speziell für die Persönlichkeitsmerkmale Introversion und Extraversion geschärft und schaue hier sehr genau hin, während ich bei anderen Aspekten, die unsere Persönlichkeit betreffen, auch oberflächlicher bleibe.
Genau hierbei kann uns das sogenannte „Schubladendenken“ weiterhelfen. Schubladen helfen uns beim Sortieren. Links die Socken, rechts die Shirts, unten Fotos. Es ist eine grobe Unterteilung, obwohl Socken natürlich noch weiter unterteilt werden können in weiße, schwarze, rote Socken, in schwarze Baumwoll-Sneakersocken, schwarze Nylonsocken usw. Aber alle passen in die Socken-Schublade. Es ist die Zusammenfassung von Dingen, die über gleiche oder zumindest ähnliche Eigenschaften verfügen.
Auch in unserem Denken gibt es diese Schubladen. Unser Gehirn hat sich, weil es so viel Energie benötigt, zu einem extremen Energiesparmeister entwickelt und sucht sich immer den kürzesten Weg, um Informationen zu verarbeiten. Nur so kann es die Informationsflut an Bildern, Geräuschen, Gerüchen, Gedanken, Emotionen und so weiter, die in jedem Moment auf uns einströmt, effizient verarbeiten und für die weitere Nutzung einordnen. Verallgemeinerungen von Persönlichkeitsmerkmalen werden daher nicht nur gerne genommen, sondern sind auch für die erste Einordnung sehr wichtig.
Denk-Kategorien helfen uns, Menschen bestimmte typische Eigenschaften zuzuordnen, die wir vorher nicht bei ihnen gesehen haben. Wenn wir jemanden als extravertiert einordnen, dann erwarten wir weitere Eigenschaften bei ihm, die wir schon bei anderen Menschen, die in der Schublade „extravertiert“ stecken, kennengelernt haben. Ob er diese Eigenschaften wirklich hat, ist damit natürlich noch nicht sicher (vielleicht liegen in unserer Schublade bisher nur extravertierte „Baumwoll-Sneakersocken“ und wir kennen noch keine extravertierten „Nylonsocken“).
Die grobe Kategorisierung hilft uns jedoch dabei, Eigenschaften wahrzunehmen, die uns vorher nicht aufgefallen sind, aber nun hervortreten, weil sie in enger Verbindung mit der Kategorie stehen. Einige dieser Eigenschaften haben wir erwartet und erscheinen uns damit typisch für diese Schublade. Andere Eigenschaften, die wir erwarten, zeigt diese Person dagegen gar nicht, dafür andere, die wir nicht erwartet haben. Aber das ist im Einzelnen gar nicht so wichtig. Wichtig ist, dass wir unsere Wahrnehmung und unser Bild dieser Person erweitern können.
Schubladendenken ermöglicht es also, eine neue Perspektive einzunehmen, unsere Eindrücke zu erweitern und dadurch Verhaltensweisen von Menschen leichter einzuordnen und zu verstehen. Es regt uns dazu an, ein tieferes Verständnis für diesen Menschen zu entwickeln.
Übrigens funktioniert das nicht nur gut bei anderen Menschen, sondern auch bei uns selbst. Was vorher nicht ins Idealbild von uns selbst passte, bekommt nun in neuem Kontext (in der Schublade) eine neue Bedeutung, eine wichtige Funktion und eine Erklärung.
So habe ich es bei mir selbst erfahren: Als ich mich in der Schublade „introvertiert“ wiederfand und mich dort ein wenig umsah, bekam so manche Eigenschaft von mir, die ich nie besonders geschätzt oder gar wahrgenommen hatte, eine andere und wertvollere Rolle in meinem Leben. Zum Beispiel wurde mir bewusst, dass ich eine gute Zuhörerin bin und dies eine Eigenschaft ist, die bei vielen Menschen in meinem Umfeld nicht so ausgeprägt ist. Meine ruhige, zuhörende Art in Gesprächen hat sich von der Bewertung „Ich bin zu still“ in „Ich kann gut zuhören“ gewandelt. Mein Selbstwertgefühl und meine Selbstakzeptanz konnten so in vielerlei Hinsicht eine neue, gestärkte Richtung einschlagen.
Die Gefahr besteht, dass wir uns vorschnell Vorurteile über Menschen bilden, die wir in eine unserer Schubladen gesteckt haben und ihnen die Eigenschaften verpassen, die wir in dieser Schublade finden. Wir dürfen die Schubladen daher nicht zum Urteilen öffnen, sondern sie nur als Wegweiser verstehen mit dem Ziel, die komplexe Persönlichkeit des Menschen vor uns ein wenig besser zu verstehen. Trotz der groben Verallgemeinerung, die dem Schubladendenken seinen schlechten Ruf verpasst hat, ist es doch ein erster Schritt zum Weiterdenken, Vertiefen und Verstehen. Jeder Mensch ist so komplex, einzigartig und in stetiger Weiterentwicklung, dass die Schubladen nur eine erste, ganz oberflächliche Orientierung bieten. Sie sind wie Wegweiser, und wenn man sie einmal geöffnet hat, ist unsere Neugier geweckt, um tiefer in ihnen zu graben. Dann können wir leichter unsere Unterschiede sichtbarer machen und gegenseitige Toleranz entwickeln.
Alles Liebe
Lena
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