- 1. Schüchternheit (obwohl es gar nicht so oft zutrifft)
- 2. Bewusstes Beobachten
- 3. Fehlendes Interesse oder Vertrauen
- 4. Selbstschutz
- 5. Konflikte vermeiden oder entschärfen
- 6. Energie tanken – so wichtig wie das „tägliche Brot“ für Intros
- 7. Stille als Zeichen von großem Interesse oder Genuss
- 8. Den eigenen Gedanken lauschen
- 9. Traurigkeit
- Fazit: Die Stille introvertierter Menschen kann viele Gründe haben!
Stille ist mein Herzenswort. Wenn ich an Stille denke, fühle ich mich sofort wohl, sicher, entspannt, zufrieden. Ich fühle mich als ich selbst. Die Stille ist für introvertierte Menschen etwas Besonderes.
Manchmal muss es still um mich herum sein, um dieses Gefühl zu erleben. Manchmal genügt es mir, wenn ich selber still bin und das Leben um mich herum schweigend beobachten darf. Manchmal ist es am schönsten, wenn beides da ist und ich der Stille lauschen kann.
Stille kann Energiespender sein, ein genussvoller Zustand, sie gibt meinen Gedanken Raum, lässt meine Kreativität fließen und ist insgesamt lebensnotwendig für mich.
Sie kann aber auch ein Schutzschild sein, ein Signal, dass gerade alles zu viel wird, oder dass es mir nicht gut geht.
Es ist ein Wort, dass so vieles ausdrücken kann.
Introvertierte sind stille Menschen. Das steckt in der Definition von Introversion drin. (Ja, es gibt auch Introvertierte, die laut sein können – vielleicht, weil sie viele extravertierte Persönlichkeitsanteile in sich haben, oder weil sie es sich lange antrainiert haben, um sich besser an ihr Umfeld anzupassen, oder… Wir sind alle schließlich nur Individuen. Aber die Mehrheit der Introvertierten wird mir zustimmen.) Was aber unsere Stille an einem bestimmten Tag, in einem bestimmten Moment bedeutet, kann völlig unterschiedlich sein.
Wir Intros sind empathisch und haben ein feines Gespür für unsere Mitmenschen. Dem einen wird es leichter gelingen, die Stille eines anderen Introvertierten zu deuten, anderen weniger. Extravertierten Menschen wird es schwerer fallen, die Bedeutung, die Stille für uns hat, nachzuvollziehen.
Ich habe gelesen, dass es in der schottischen Sprache 421 (!) Wörter für Schnee gibt (jawohl, anscheinend mehr als bei den Inuit!). Das Wort Stille ist für mich so wichtig und vielschichtig, dass ich mir manchmal wünsche, ich hätte auch viel mehr Worte, um meinen jeweiligen Stille-Zustand treffender ausdrücken zu können.
Es gibt einige Synonyme für Stille in unserer Sprache, wie zum Beispiel Frieden, Schweigen, Stillschweigen, Eintracht, Ruhe, Entspannung, Einigung, Harmonie, Lautlosigkeit. Aber so richtig treffen die meisten dieser Begriffe nicht den Kern, finde ich.
Was es alles bedeuten kann, wenn Intros still sind, habe ich hier zusammengestellt:
1. Schüchternheit (obwohl es gar nicht so oft zutrifft)
Introversion wird oft missverstanden und als Schüchternheit gedeutet, sogar mit ihr gleichgesetzt. Es ist die häufigste Fehldeutung, mit der wir Intros zu kämpfen haben. Schüchternheit ist ein eigenständiges Charaktermerkmal. Extravertierte Menschen können genauso darunter leiden wie introvertierte. Schüchternheit ist eine soziale Angst, vor zwischenmenschlichen Beziehungen. Still zu sein, ist dann eine Folge der Schüchternheit.
Man ist still, weil man schüchtern ist, aber man ist nicht zwingend schüchtern, nur weil man still ist. Stille kann Schüchternheit bedeuten, bei introvertierten Menschen tut es das aber häufig nicht. Schüchterne Menschen sind aus anderen Gründen still und empfinden ihre eigene Stille anders als introvertierte Menschen. Sie leiden häufiger darunter, während wir Intros unsere Stille eher genießen können.
2. Bewusstes Beobachten
Dies ist unsere große Stärke und (jedenfalls bei mir) oft der Grund, warum wir still sind. Ob neue Situationen, fremde Menschen, neue Gedanken und Ideen – wir beobachten, bevor wir handeln. Leider werden wir dafür oft als distanziert, schüchtern oder desinteressiert wahrgenommen – ein häufiges Missverständnis, dass bestimmt jeder von uns kennt.
Wir Introvertierten sind ruhig und bei uns selbst, um besser und intensiver unser Umfeld (oft auch uns selbst) beobachten zu können. Wir rüsten uns mit Informationen aus, wägen ab und wollen uns unserer Sache sicher sein, bevor wir zur Tat schreiten und unseren Stille-Zustand verlassen. Für Extros schwer zu verstehen, da sie selber eher impulsiv reagieren und beim Sprechen denken können.
Diese „Überlegens-Zeit“ ist eine unserer wichtigsten Stärken, finde ich. Wir handeln dadurch nicht nur überlegter, sondern brauchen sie auch für unser persönliches Wohlfühl-Sicherheitsbedürfnis. Leider führt sie oft dazu, dass wir missverstanden werden.
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3. Fehlendes Interesse oder Vertrauen
Wenn wir uns in einer Situation langweilen, neigen wir dazu, uns in uns selbst zurückzuziehen und still zu werden. Dann sind wir tatsächlich so distanziert, wie es uns oft fälschlicherweise vorgeworfen wird. Bei einem langweiligen Gespräch in einer Gruppe mit mehreren Personen gehen wir nicht forsch voran und versuchen das Thema zu wechseln, sondern ziehen uns innerlich zurück, schweigen und hoffen auf bessere Zeiten.
Ähnlich ist es, wenn wir jemandem (noch) nicht vertrauen. Wir fühlen uns dann sicherer, unsere Kommunikation auf ein Minimum herunterzufahren, um so wenig wie möglich von uns preiszugeben.
Das ist jedoch sehr von der Situation abhängig, in der wir uns befinden. Man sollte unsere Stille nicht vorschnell als Desinteresse oder Misstrauen deuten, denn es kann ebenso gut einer der anderen Gründe vorherrschen! Siehe zum Beispiel Punkt vier und sieben!
4. Selbstschutz
Ähnlich wie bei Nr. 3 klinken wir uns innerlich aus einer Situation aus, aber nicht aus Gründen wie Desinteresse oder Misstrauen. Ich kenne es von mir sehr gut, dass ich mich eine ganze Weile offen und interessiert an einem Gespräch beteiligt habe, bis ich plötzlich, regelrecht von einem Moment zu anderen, das Bedürfnis habe, mich zurückzuziehen.
Das hat einen ganz einfachen Grund und hängt mit dem großen Ruhebedürfnis von Intros zusammen. Mein Sozial-Akku ist dann einfach leer, ich habe kaum noch Energie, die vielen Reize der verbalen und nonverbalen Kommunikation aufzunehmen und zu verarbeiten.
Ich verspüre das Bedürfnis nach Alleinzeit, verabschiede mich aber aus Höflichkeit nicht sofort (oder kann aus einem anderen Grund die Situation nicht verlassen). Es ist eine reine Schutzmaßnahme meines Körpers, still zu werden, um die Restenergien für die Verarbeitung der unvermeidlichen Reize von außen zu verwenden.
5. Konflikte vermeiden oder entschärfen
Dass wir Konflikte vermeiden wollen, hat nichts mit Schüchternheit zu tun. Ein Konflikt bedeutet hohen Energieverbrauch – Energie, die wir normalerweise schon für alltägliche Reize von außen benötigen. Darum sind wir Introvertierten sehr harmoniebedürftig.
Stille hilft uns dabei, uns mit unseren Gedanken und unserer Intuition verbinden, Situationen zu bewerten und nach Lösungen zu fahnden. Wir sind bestrebt, einem Konflikt durchdacht und lösungsorientiert zu begegnen, nicht gedankenlos zu streiten. Darum ist es manchmal besser zu schweigen, als unbedachte Worte zu äußern, die einen Konflikt noch weiter verschärfen oder überhaupt erst entstehen lassen.
6. Energie tanken – so wichtig wie das „tägliche Brot“ für Intros
Energie ist immer wieder das große Thema der Introvertierten: Wie finde ich das richtige Maß an Auszeiten, um meine Energiequellen aufzufüllen und Überstimulation abzubauen – ohne mich zu sehr von sozialen Kontakten zu isolieren und „das Leben zu verpassen“?
Die stillen Momente sind unsere Tankstellen. Jeder von uns muss sie mehr oder weniger oft und lange, aber immer regelmäßig, ansteuern. Danach können wir uns wieder in den Alltag stürzen, uns neuen Begegnungen öffnen und neue Erfahrungen sammeln.
7. Stille als Zeichen von großem Interesse oder Genuss
Dieser Punkt scheint erst einmal widersprüchlich zu Nr. 3 zu sein. Ja was denn nun, Desinteresse oder Interesse? Aber genau so ist es: Die Stille kann vieles bedeuten! Wir denken gerne über interessante Themen intensiv nach – und das geht nun einmal nicht so gut, wenn man quatscht.
Wenn wir etwas Neues kennenlernen, was unser Interesse weckt, egal ob es ein Text, ein Mensch, ein Land, eine Vorführung ist – was auch immer – , dann nehmen bzw. saugen wir regelrecht alles davon auf. Wir wollen kein noch so kleines Detail verpassen, sind voll darauf konzentriert – und sind still, um wirklich alles in uns aufnehmen zu können.
Dasselbe gilt für Momente, die wir in vollen Zügen genießen wollen. Stell dir einen Sonnenuntergang vor, den zwei Menschen zusammen beobachten, und sich dabei ununterbrochen unterhalten – sie bringen sich um den wahren Genuss des Erlebnisses. Genuss ist eng mit Stille verbunden.
8. Den eigenen Gedanken lauschen
Gehirne introvertierter Menschen arbeiten anders als das extravertierter Menschen. Informationen drehen mehr Schleifen durch die Nervenbahnen, bis sie verarbeitet sind. Wenn wir über ein Thema nachdenken, lösen wir vielschichtige Gedankenströme und Assoziationen aus. Wer das nicht kennt, kann nicht nachvollziehen, wie man sich dabei fühlt.
Auf der einen Seite kann es ganz schön anstrengend sein, manchmal sogar störend, bremsend oder gar nervenaufreibend. Auf der anderen Seite ist es einfach nur fantastisch! Die meisten Intros lieben ihre tiefgründigen Gedankengänge und entdecken dabei, welche neuen Ideen und Erkenntnisse sich entwickeln.
Ich liebe es, abends über meinen Tag nachzudenken, meine Erlebnisse zu sortieren und zu bewerten, sie vielleicht noch einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten und Anregungen für die nächsten Tage zu sammeln. Das ist einer meiner wichtigsten stillen Momente am Tag.
9. Traurigkeit
Die allermeisten Menschen, die traurig sind, sind still und in sich gekehrt (es sei denn, die Traurigkeit löst Wut aus). Das ist bei Intros nicht anders als bei Extros. Extros haben aber weniger andere Anlässe, um still zu sein, und verbinden Stille daher eher mit Traurigkeit oder anderen negativen Gefühlen. Darum nehmen sie bei uns Intros oft an, dass wir traurig sind, weil wir „so still“ sind. Dabei vergessen sie (oder wissen es nicht besser), dass es bei uns Intros noch viel mehr Gründe gibt, still zu sein. (Aber wenn sie diesen Artikel gelesen haben, wissen sie ja jetzt, was noch alles dahinter stecken kann!)
Dennoch: auch Traurigkeit kann wie bei allen Menschen natürlich ein Grund für Stille und Zurückgezogenheit sein.
Fazit: Die Stille introvertierter Menschen kann viele Gründe haben!
Stelle keine heimlichen Vermutungen an, wenn du in Gesellschaft eines stillen, introvertierten Menschen bist. Die Chance ist groß, dass du falsch liegst.
Die vielfältigen Bedeutungen der Stille von Introvertierten bieten viel Raum für Missverständnisse und Fehldeutungen. Für uns Intros ist sie durchaus nicht immer die beste Option. Zum Beispiel sollten manche Konflikte besser ausgetragen werden (Nr. 5), oder wir verlieren uns zu sehr in unschönen Gedankenkarussells, die auch uns nicht guttun (Nr. 8). Stille ist aber ein wichtiger Teil von uns und nicht selten unsere Art, den Dingen zu begegnen.
Stille ist ein Multifunktionswerkzeug für Introvertierte! Schau dir einen introvertierten Menschen genau an, wenn er still ist. Dann kannst du erkennen, ob er sich wohlfühlt, vielleicht sogar konzentriert oder fasziniert ist, ob er einfach nur eine Pause braucht, sich unwohl fühlt oder gar Kummer hat. Im Zweifel darfst du auch kurz nachfragen – aber bitte störe unsere Stille nicht zu lange 😉.
Wie ist das bei dir? Kannst du den Bedeutungen der Stille zustimmen? Kennst du vielleicht noch mehr? Schreib mir deine Erfahrungen in die Kommentare!
Alles Liebe
Lena
Zum Weiterlesen:
16 häufige Vorurteile gegenüber Introvertierten (und was wirklich dahinter steckt)
Über deine innere Stille habe ich in dem Yoga & Lifestyle Magazin Ganzwunderbar einen Gastartikel geschrieben – hier kannst du ihn lesen.
Doris
Liebe Lena,
mit großem Interesse habe ich deine bisherigen Blogbeiträge gelesen. Ich fühle mich sehr von ihnen angesprochen, da sie eingängig und in schöner und klarer Sprache geschrieben sind und ich so ziemlich alles, was du schreibst, aus eigener Erfahrung kenne.
Mit dem Thema Introversion beschäftige ich mich seit einigen Jahren. Initialzünder war – wie anscheinend bei vielen von uns – das Buch „Still“ von Susan Caine. Je mehr mir bewusst wird, wie viele wir sind, und je bewusster mir die Stärken der Introvertiertheit werden, desto besser geht es mir. Es tut so gut, mich endlich nicht mehr wie ein Alien zu fühlen! 🙂
Den unterschiedlichen Bedeutungen der Stille kann ich ohne Einschränkungen zustimmen. „Den eigenen Gedanken lauschen“ – das hat mich daran erinnert, dass ich schon oft, wenn ich nach längerem Zusammensein mit vielen und/oder mit sehr extrovertierten Menschen wieder zuhause in der wohltuenden Stille war, dachte, „jetzt kann ich mich endlich wieder denken hören…“. 🙂
Ich freue mich darauf, viele weitere interessante Blogbeiträge von dir zu lesen!
Liebe Grüße,
Doris
Lena
Liebe Doris,
ganz lieben Dank für deinen Kommentar! Ich freue mich sehr darüber, dass dir meine Texte gefallen – vor allem, weil der ganze Blog und überhaupt das Veröffentlichen von eigenen Texten noch ganz neu für mich ist.
Susan Cain ist schon so etwas wie das Standardwerk für Intros geworden – zu Recht, wie ich finde. Aber das Thema Introversion wird ja in letzter Zeit immer häufiger auch bei uns in den Medien aufgegriffen – vielleicht ein Zeichen, dass die Zeit der Intros noch kommt?!
Ganz liebe Grüße und gerne bis bald!
Lena
Dominic
Hallo aus Karlsruhe.
Es sind wirklich sehr viele Situationen, die mir aus meinem Leben einfallen. Die genau zu dem passen, was du schreibst. Sehr inspirierend – um einmal zu reflektieren. Wir Stillen bekommen so oft gesagt, wir müssten uns zeigen, mal was sagen, dies und das…
Danke für den Beitrag. Liebe Grüße
Lena
Hallo Dominic,
vielen Dank – genau das soll dieser und andere Beiträge erreichen. Inspiration, um über sich selbst nachzudenken und vielleicht auch den ein oder anderen Blickwinkel zu bekommen.
Liebe Grüße
Lena
Danja
Hallo Lena
Du sprichst mir da wirklich aus dem Herzen. So unglaublich oft wurde meine Stille schon falsch interpretiert oder gestört. Wir Introvertierten brauchen harmonievolle, aber auch geduldige Gegenüber. Hast du manchmal auch das Gefühl, dass deine Gedankengänge zu komplex sind für andere?
Liebe Grüsse aus der Schweiz
Lena
Liebe Danja,
ja, das komplexe und tiefgründige Denken ist ganz typisch für introvertiert veranlagte Menschen. Ich kenne es auch gut, und leider übertreibe ich es auch und „zerdenke“ manches. Immerhin fällt es mir inzwischen auf, wenn ich mal wieder dabei bin 😉
Alles Liebe
Lena
Andreas
Völlig zufällig hierauf gestoßen, vermutlich werde ich diese Seite auch nie wieder sehen, aber a die Verfasserin, der Text ist ein Meisterwerk! Ich empfehle schreib darüber bitte ein Buch!
Vielen Dank für diese Bereicherung
Lena
Lieber Andreas,
was für ein Lob, ich bin sprachlos! Ich freue mich so sehr darüber, wenn ich höre und lese, wie meine Texte andere Menschen inspirieren und bereichern.
Das Buch gibt es schon! In „Leidenschaftlich introvertiert“ habe ich der Stille tatsächlich ein großes Kapitel gewidmet. Es ist ein so schönes Thema…
Vielleicht schaust ja doch mal wieder auf Team Introvertiert vorbei, ich würde mich freuen!
Liebe Grüße
Lena