In diesem Artikel wird es philosophisch. Es geht ausnahmsweise mal nicht um Introversion und alles drumherum.
Dieser Artikel ist für alle Intros, die in letzter Zeit viel auf ihren schnellen, eingefahrenen Gehirn-Autobahnen unterwegs waren. Die Lust haben, mal wieder die abseits gelegenen Trampelpfade im Kopf auszuprobieren, um herauszufinden, wo sie eigentlich hinführen.
Inspirationen für spannende Gedankenspiele liefern, selbstverständliche Glaubenssätze in Frage stellen, neue Perspektiven ausprobieren – dazu möchte ich in diesem Artikel anregen, und deinem Intro-Gehirn das passende Futter dazu vorlegen.
Wenn du Lust dazu hast und neugierig geworden bist, lies gerne weiter (wenn nicht, kann ich es auch gut verstehen – dann viel Spaß mit einem meiner anderen Artikel!).
Aber ACHTUNG, an dieser Stelle sei eine Vorwarnung ausgesprochen (bzw. geschrieben): Das, was du gleich liest, könnte dein Weltbild zum Wackeln bringen und deine Realität in einem ganz neuen Licht erscheinen lassen! Bist du dazu wirklich bereit?
(Du liest trotzdem noch? Okay, aber ich habe dich gewarnt! 😉)
Die drei Wahrheiten
Was ist wahr? Was ist Realität? Eine spannende Frage, die Philosophen seit dem Altertum beschäftigt. Schauen wir mal, wo uns diese Frage heute hinführt.
Wir können drei verschiedene Versionen von „Wahrheit“ erkennen.
Die erste Wahrheit ist die Es-Wahrheit. Darunter kann man alle materiellen Dinge fassen. Tisch. Baum. Haus. Elefant. Spagetti mit Avocado-Zitronen-Sauce. Brownies. Usw. Es ist wahr, dass diese Dinge existieren. Wir können sie sehen, anfassen, wahrnehmen. Jeder von uns auf seine Weise.
Zur Es-Wahrheit gehören auch Dinge, die von der Allgemeinheit als wahr anerkannt sind. Wo wir Menschen festgelegt haben, was wahr und richtig ist. Zum Beispiel Geld: Wir sind uns einig, dass ein einfaches Stück Papier mit einem speziellen Aufdruck viel mehr wert ist, als das Papier an sich. Es ist für uns wahr, dass Geld einen gewissen Wert hat, und zwar den, den wir ihm geben.
Die Es-Wahrheit umfasst also auch den kollektiven Glauben an etwas.
Die zweite Wahrheit ist die Wir-Wahrheit. Dies umfasst eine Wahrheit, die mehrere Menschen gemeinsam als Wahrheit erleben und bestimmen, aber nicht zwingend alle Menschen bzw. die Allgemeinheit. Wenn Menschen zusammen eine Situation erleben, mit allen dazugehörigen Sinneseindrücken, der erzeugten Stimmung und den hervorgerufenen Gefühlen, dann ist diese Situation für sie wahr. Für andere nicht, denn sie erleben die Situation nicht. Sie können nur durch Erzählungen erfahren, was passiert ist, und müssen dem Glauben schenken. Ob es wirklich wahr ist, und ob sie die gleichen Gefühle dabei empfunden hätten, können sie nicht sicher wissen.
Die Wir-Wahrheit umfasst gemeinsame Annahmen und Überzeugungen, aber es spielen die individuellen Wahrnehmungen und Interpretationen mit rein.
Ein Beispiel: Du hörst ein Konzert. Alle Beteiligten, Zuhörer, Künstler, Management sind sich einig, dass die Musik sehr schön war. Der Konzertsaal, die Musikinstrumente usw. gehören zur Es-Wahrheit. Die Musik aber, die gespielt wurde, ist eine gemeinsame Annahme und Interpretation der Beteiligten. Sie sind sich einig, dass die Töne, die die Instrumente erzeugt haben, Musik waren.
Was Musik ist, ist eine kollektive Annahme, die sich auch verändern kann. Vor 500 Jahren hätte wohl niemand zugestimmt, dass Heavy Metal oder Rap Musik sei. Heute aber sind wir uns einig, dass wir es als Musik interpretieren. Es ist unsere Wir-Wahrheit.
Die Wir-Wahrheit ist Teil einer Gruppe, eines Kulturkreises, einer Zeit. Sie ist veränderlich.
Vielleicht hast du schon eine Idee, was die dritte Wahrheit sein könnte?
Die dritte Wahrheit ist Ich-Wahrheit. Deine subjektive Sicht der Welt, deine individuellen (Sinnes-) Wahrnehmungen, deine persönliche Realität.
Dein Schönheitsempfinden ist zum Beispiel deine Ich-Wahrheit. Das, was du als schön empfindest, kann ein anderer ganz anders wahrnehmen. Deine Realität ist es, dass etwas schön ist. Die Realität eines anderen ist es vielleicht, dass dasselbe Ding hässlich ist. Oder wenigstens durchschnittlich.
Das ist wichtig zu verstehen, weil es zu oft missverstanden wird. Und verwechselt oder gar wissentlich missbraucht wird: Wir meinen, dass unsere Ich-Wahrheit doch eine Es-Wahrheit (unsere kollektive Wahrheit) ist oder sein muss. Meinungen werden in den Medien als allgemeingültig, als Es-Wahrheit, dargestellt und verbreitet. Die eigene Ich-Wahrheit schwächelt dann gerne und glaubt, was da so erzählt wird.
Ich-Wahrheiten können sich so zu Wir- oder Es-Wahrheiten entwickeln. Mit positiven oder negativen Auswirkungen auf den einzelnen, je nachdem.
Was ist wirklich wahr?
Das Problem an den Wir-Wahrheiten ist unsere Individualität. Das, was ich subjektiv wahrnehme, muss immer subjektiv bleiben. Meine Wahr-Nehmung der Welt ist von meinen ganz individuellen Sinneseindrücken, Erfahrungen, Glaubenssätzen, Interpretationen geprägt – und diese sind bei jedem Menschen einzigartig.
Wie kann ich also sicher wissen, ob ich etwas genauso verstehe und wahrnehme wie mein Gegenüber? Ich kann es nicht! Ich kann es nur vermuten und mich dem annähern. Gewissheit kann es nicht geben.
Für jeden von uns ist nur das wahr, war er selbst als wahr erlebt bzw. wahr-nimmt. Ich kann versuchen, etwas in Worten so gut es geht zu beschreiben, aber jeder Zuhörer oder Leser wird seine eigenen Bilder, Vorstellungen und Interpretationen dazu im Kopf entwickeln – die sich leicht oder erheblich von meinen Bildern, Vorstellungen und Interpretationen unterscheiden können.
Was ist also wirklich wahr?
Es kann nur das sein, was wir selbst erlebt und erfahren haben. Das ist unsere Wahrheit, unsere Realität.
Berichte und Geschichten, die wir hören und lesen, erzeugen unsere subjektive Vorstellung davon in unserem Kopf. Wie viel Realität steckt also in ihnen für uns?
Wie wahr ist dieser Text?
Betrachten wir doch einmal diesen Text, den du gerade liest. Es gibt Es-Wahrheiten rund um diesen Text: Der Bildschirm deines PCs, Tablets oder Smartphones, die App, die die Schrift aus Bits und Bytes-Informationen darstellt. Vielleicht hast du ihn auch ausgedruckt, dann ist das bedruckte Papier in deiner Hand eine Es-Wahrheit. Doch da geht es schon los: Jeder Bildschirm stellt je nach Größe und Einstellungen den Text anders dar. Auf dem Papier sieht es auch wieder anders aus. Jeder von uns nimmt das Schriftbild anders wahr. Ist es also immer noch eine Es-Wahrheit?
Was die einzelnen Wörter bedeuten, ist eine Wir-Wahrheit unseres deutschen Sprachraumes. Wir haben uns auf bestimmte Bedeutungen einzelner Wörter geeinigt und diese als wahr festgelegt.
Die Gedanken, die dir beim Lesen des zusammenhängenden Textes kommen, sind deine Ich-Wahrheit. Vielleicht sind es Gedanken wie „Wow, das muss ich zweimal lesen und dann meiner Oma davon erzählen“ oder „So ein Bullshit habe ich schon lange nicht mehr gelesen“ oder „Ich kapiere nix“ oder „Was soll das, ich wollte mich hier doch nur über meine Introversion informieren“ oder „Das ist spannend, das Thema möchte ich gerne vertiefen, hoffentlich hat sie am Ende noch eine Buchempfehlung für mich.“ (Habe ich nicht, ich lese mich selbst erst in das Thema ein. Wenn ich eine Empfehlung habe, reiche ich sie gerne nach.)
Es wird niemals zwei Menschen geben, die absolut identisch diesen Text wahrnehmen oder dieselben Gedanken beim Lesen haben. Und ich habe beim Schreiben dieses Textes sowieso ganz eigene Gedanken dazu.
Wahrheit und Wirklichkeit sind das, was du darin siehst
Ein weiteres Beispiel zur Wahrnehmung sind deine Augen und das, was du siehst. Aufgrund ihres Aufbaus gibt es in deinem Sichtfeld immer einen schwarzen Fleck, den deine Augen nicht erfassen können (dort, wo der Sehnerv austritt, liegen keine Lichtrezeptoren). Damit du trotzdem ein vollständiges Bild ohne schwarzen Fleck in der Mitte siehst, interpretiert dein Gehirn die fehlenden Informationen aus vorhandenen Erfahrungen dazu und zeigt dir ein vollständiges Bild. Du siehst das, was dein Gehirn zu sehen glaubt.
Generell filtert dein Gehirn bzw. dein Unterbewusstsein ständig aus der Flut an Sinneswahrnehmungen (vor allem Bilder, Geräusche, Gerüche, Geschmäcker und Tastsinn) den Teil heraus, den es für wichtig erachtet, und schickt nur diesen in dein Bewusstsein. Der Rest verschwindet in den Tiefen deines Unterbewusstseins. (Und damit streifen wir doch noch einmal das Thema Introversion: Hier kannst du nachlesen, wie unterschiedlich Intro- und Extro-Gehirne arbeiten.) Du hast es bestimmt schon einmal erlebt. Eine Turmuhr, die jede Viertel- oder halbe Stunde schlägt, hörst du anfangs bewusst. Nach einiger Zeit nimmst du die Glocken aber nicht mehr wahr – obwohl sie natürlich trotzdem regelmäßig läuten. Dein Unterbewusstsein hat aber entschieden, dass es nicht mehr wichtig ist, und leitet die Information nicht mehr ans Bewusstsein weiter.
Sogar unsere körperlichen Sinneswahrnehmungen unterliegen also unserer individuellen Interpretation und sind in jeder Situation von Mensch zu Mensch unterschiedlich!
Wahrheit kann nur das sein, was DU in ihr siehst.
Bist du bereit, Selbstzweifel hinter dir zu lassen und stolz auf deine introvertierte Persönlichkeit zu sein?
Trage dich für die Intro-Inspirationen ein und erhalte ca. 1x im Monat meine Gedanken mit Tiefgang rund um unser Persönlichkeitsmerkmal, kleine Geschichten und praktische Intro-Alltagstipps – exklusiv für meine Leserinnen und Leser. Über 400 Introvertierte und Interessierte sind bereits dabei!
Mein Willkommensgeschenk an dich: das Mini-Ebook „Energievampire und Energieoasen – Intro-Tipps für einen ausgeglichenen Alltag“!
Lese solange mit wie du möchtest. Ganz kostenlos. Abmeldung jederzeit möglich. Klick hier und trage dich jetzt ein:
Gibt es Grenzen?
Gibt es Grenzen, oder setzen wir uns diese selbst?
Wir glauben an eine Grenze, wenn wir die Erfahrung gemacht haben, dass es dahinter nicht weitergeht, oder, und das ist noch viel häufiger, weil uns jemand erzählt hat, dass es dahinter nicht weitergeht.
Wie wir aber schon erfahren haben, ist es seine Ich-Wahrheit, die wir da glauben. Doch ist es auch unsere? Es ist deine Entscheidung, die Grenzen der anderen für dich anzunehmen oder deine eigenen Grenzen auszuloten. Wenn es denn überhaupt welche gibt.
Eine kleine, verblüffende Übung dazu:
Stelle dich gerade hin und strecke deinen rechten Arm und rechten Zeigefinger gerade nach vorne aus. Jetzt drehst du deinen Oberkörper mit dem ausgestreckten Arm so weit es geht nach rechts. Die Füße bewegen sich nicht. Drehe den Oberkörper bis zum äußersten. Der Arm darf auch so weit nach hinten gedreht werden wie es geht. Wenn du merkst, dass du deine Grenze erreicht hast und dich auf gar keinen Fall noch weiter drehen kannst, merke dir den Punkt, auf den dein Zeigefinger jetzt zeigt.
Jetzt drehe dich wieder nach vorne, lasse den Arm fallen und schließe die Augen. Entspanne kurz. Stelle dir jetzt gedanklich vor, wie du dich wieder drehst und dein Zeigefinger auf einen neuen Punkt zeigt, der noch ein Stückchen weiter rechts liegt von dem Punkt, den du dir eben gemerkt hast. Stelle dir einen Moment lang ganz bildlich vor, wie du dich drehst und dein Finger mühelos auf diesen neuen Punkt zeigt.
Nun öffnest du wieder die Augen, streckst Arm und Zeigefinger nach vorne aus und drehst dich wie eben so weit es geht nach rechts, ohne die Füße zu bewegen. Was passiert?
Vermutlich wirst du nun den neuen Punkt mit dem Finger erreichen, obwohl es im ersten Versuch noch unmöglich war.
Grenzen existieren nur, wenn wir noch nicht wissen, wie es dahinter weitergeht.
Du hast die Macht, deine Realität zu gestalten
Deine Perspektive, deine Wahrheit schafft deine Realität. Wenn dir dies klar ist, dann wirst du auch erkennen, wie viel Macht in dir steckt, um deine Realität so zu formen, wie du es dir wünschst.
Spannender Gedanke, oder?
„Die Ich-Wahrheit ist darum die machtvollste, wunderbarste Wahrheit, sie ist die Möglichkeit, uns die Welt zu erschaffen, so wie wir sie haben wollen – sofern wir anerkennen, dass es nur eine Ich-Wahrheit ist. Dann erst entfaltet sie ihre ganze, grenzenlose Macht.“
Hermann Scherer
Dieser Artikel ist voller offener Fragen. Natürlich kann ich sie dir nicht beantworten – denn das wäre ja nur meine subjektive Ich-Wahrheit. Ich würde mich aber freuen, wenn dich die Fragen zum Nachdenken anregen und vielleicht auch deine Sichtweise auf deine Welt verändern – oder revolutionieren. Ich brenne darauf, deine Meinung (deine Ich-Wahrheit) zu lesen. Bitte schreib mir oder hinterlasse ein Kommentar!
Alles Liebe
Lena
Auch interessante Artikel:
Mim | still & sensibel
Hallo Lena,
wow, das war wirklich mal ein spannender Ausflug in die Philosophie. Hat mich sehr zum Nachdenken gebracht.
Ich musste dabei an etwas denken, worüber ich mal gelesen habe: unsere Erinnerungen sind oft nicht die Wahrheit, obwohl wir sie dafür halten. Je länger ein Erlebnis zurückliegt, desto mehr „dichtet“ unser Gehirn dazu. Deshalb kommt es auch häufig vor, dass wir uns an ein Erlebnis anders erinnern, als andere Menschen, die ebenfalls bei dem Erlebnis dabei waren. Das bedeutet doch dann, dass auch innerhalb der Wir-Wahrheit völlig unterschiedliche Ich-Wahrheiten stecken, oder?
Ganz liebe Grüße
Mim
Lena
Hallo Mim,
ja das stimmt. Unsere Erinnerungen sind vereinfacht, verzerrt und verallgemeinert. Meistens erinnern wir das, was am besten zu bereits vorhandenen Mustern in unserem Denken passt. Darum sagt man auch, dass man nicht alles glauben soll, was man denkt. Ach, da könnte ich jetzt sooo weit ausholen – eins meiner Lieblingsthemen 🙂
Die Wir-Wahrheit beschreibt Überzeugungen, auf die wir uns alle geeinigt haben. Wie das Beispiel mit den Geldscheinen.
Liebe Grüße!
Lena